Jeder weiß, was „Wissen“ ist, oder? Wir alle erwerben ständig neues Wissen ohne uns Gedanken darüber zu machen, wie das funktioniert. Häufig beinhaltet unser Wissen auch widersprüchliche Informationen – wie passt das zusammen mit unserer Vorstellung von Wahrheit? Fragen, die weder sexy noch hilfreich klingen, aber vertraut mir: Es lohnt sich, kurz drüber nachzudenken.

TL;DR
– Was ist Wissen? Wie gehe ich auf der Suche danach mit widersprüchlichen Informationen um?
– Üblicherweise werden zwei Sichtweisen unterschieden: Entweder, man geht von einer einzigen Wahrheit aus, die man aufdecken kann, wenn man nur lange genug forscht. Oder man akzeptiert verschiedene Wahrheiten, gleichzeitig auftreten, weil sie auf verschiedenen Perspektiven beruhen.
– Mehrere Wahrheiten anzunehmen gilt als „reifere Betrachtungsweise“ – aber jede Meinung als gleichwertig wahr zu klassifizieren klingt nicht besonders reif. Daher wird neben dem „Absolutismus“ (= eine Wahrheit) und dem Multiplismus (= mehrere subjektive Wahrheiten, die gleichberechtigt sind) eine weitere Perspektive benötigt: Der Evaluatismus.
– Evaluatismus beschreibt die Auffassung, dass Wissen zwar eine subjektive Komponente beinhaltet, aber auch eine objektive. Aussagen mögen dadurch voneinander abweichen, dass sie auf verschiedenen Perspektiven beruhen. Aber manche davon sind weniger wahr als andere und durch den sorgfältigen Vergleich und die Auswertung von Informationen kann ich diese zu einem Gesamtbild integrieren.

Mehr als nur ein Wort

Wissenschaft ist, wie der Name bereits sagt, ständig damit beschäftigt, Wissen zu schaffen. Wir alle haben auch irgendwo ein vages Gefühl dafür, was „Allgemeinwissen“ ist, was darüber hinaus geht und wie wir unseren eigenen Wissensstand in etwa einzuordnen haben. Wir schätzen ständig ein, wie viel Wissen jemand hat – manchmal drücken wir das sogar in Punkten oder Noten aus – aber was Wissen eigentlich ist, fragen wir uns seltener. Oder wie man es genau erwirbt. Genauer gesagt, wie man möglichst gutes Wissen erwirbt – angefangen damit, was „gutes“ Wissen überhaupt ist.

An dieser Stelle mag man sich vielleicht denken: „Okay. Das ist mir zu philosophisch. Wozu muss ich darüber nachdenken, was „Wissen“ genau bedeutet? Klingt wie etwas, was wir damals in der Schule viel zu lang und unnötig kompliziert abgehandelt hätten.“
Es stimmt: Man kommt wunderbar durchs Leben, ohne die Bedeutung jedes einzelnen Wortes genaustens auszuklamüsern. Genau genommen würde das die meiste Zeit bloß mehr Arbeit als nutzen bedeuten. Im Rahmen meiner Masterarbeit musste ich aber genau das tun und mich mit den Untiefen von „Wissen“ beschäftigen. Überraschenderweise stellte sich heraus: Es hat mein Bild von Wissen und Wissenschaft verändert und wie ich Fakten und Wahrheit handhabe. Zu überlegen, was man von Wissen eigentlich erwartet, kann nützlich sein, wenn man mit Informationen umgehen möchte – was wir alle jeden Tag tun.

Die meisten von uns ordnen ganz automatisch die Verlässlichkeit einer Informationsquelle ein. Wir wissen, welchen Zeitungen wir besser nicht allzu sehr trauen sollten und ordnen den Erfahrungsbericht der Cousine dritten Grades der besten Freundin unseres Friseurs anders ein als die bis ins Detail durchrecherchierte Dokumentation der BBC. Wenn wir, zum Beispiel im Internet, auf widersprüchliche Aussagen stoßen, vergleichen wir sie miteinander und versuchen die jeweiligen Informationen einzuordnen. Damit sind wir auch schon bei der Kernfrage angelangt, die sich stellt, wenn man darüber nachdenkt, was „Wissen“ ist: Wie geht man mit Unsicherheit und Widersprüchlichkeit um? Was ist wahr und was nicht? Können mehrere Dinge gleichzeitig wahr sein?

Eine oder mehrere Wahrheiten?

Dabei gelangt man schnell zu zwei grundlegenden Perspektiven. Diese werden unter verschiedenen Namen von verschiedenen Forschern und Theoretikern beschrieben, aber der Grundgedanke bleibt derselbe. Fisher spricht zum Beispiel von „Absolutismus“ und „Relativismus“. Absolutismus beschreibt hierbei die Haltung, dass es nur eine Wahrheit geben kann. Es gibt Fakten, die man messen kann – und alles, was davon abweicht, ist falsch. Relativismus dagegen lässt mehrere „Wahrheiten“ zu und erkennt verschiedene Sichtweisen an. Naheliegend, dass ein relativistisches Weltbild zu offenerer Kommunikation und mehr Austausch führt. Aber auch wenn Relativismus hier deutlich vernünftiger und toleranter klingt, offenbart sich schnell das Dilemma an dieser Position: Sicherlich ist es überhaupt nicht mehr vernünftig, sich vollkommen offen das Weltbild eines Menschen anzuhören, der an eine flache Erde glaubt. Und dabei ernsthaft in Betracht zu ziehen, dass er genau so sehr Recht haben könnte wie man selbst mit der Überzeugung, dass die Erde eine Kugel ist.

Es geht allerdings nicht so sehr darum, etwas als „richtig“ oder „falsch“ einzuordnen. Immerhin gibt es Dinge auf der Welt, die noch nie ein Mensch je gesehen oder gemessen hat. Vieles wissen wir noch nicht und einige Fragen haben wir noch überhaupt gar nicht gestellt. Wie soll man da überhaupt den Anspruch haben können, in „richtig“ oder „falsch“ zu unterteilen?
Die Sache mit der Wahrheit und dem Wissen greift aber viel tiefer. Stellen wir uns ein paar alte, bärtige und autoritäre Urväter der Wissenschaft vor, die das „klassische Wissenschaftsbild“ begründet haben. Die Sache mit der Wahrheit war für sie viel grundlegender: Selbst, wenn wir sie noch nicht messen können, gibt es doch die eine Wahrheit. Aufgrund unvollständiger Forschung oder ungenauer Messmethoden, vielleicht auch aufgrund von Wahrnehmungsfehlern oder Irrtümern können wir sie bisher nicht abbilden. Je mehr wir aber forschen, desto näher kommen wir der Realität, die allen Dingen zugrunde liegt. Oder anders gesagt: Wenn man nur lange genug bohrt, hat am Ende nur noch einer recht.
In anderer Form kann das auch bedeuten: Möglicherweise kenne ich die Antwort auf eine Frage nicht. Aber ich gehe davon aus, dass jemand anderes, ein Experte zum Beispiel, die richtige Lösung weiß. Wie sehr man Fragen für grundsätzlich beantwortbar hält hängt also eng damit zusammen, wie man Wissen versteht und wird unter dem Thema answerability („Beantwortbarkeit“) erforscht. Erinnert ihr euch an die Frage, ob das Kleid weiß und gold oder schwarz und blau ist? Karlsson und Allwood haben es sogar zum Gegenstand eines Papers zu answerability gemacht (41 % der Teilnehmer glaubten, es gäbe keine korrekte Antwort auf die Frage nach der Farbe des Kleids).

Noch heute wird Wissenschaft mit dem „klassischen“ Bild der einen Wahrheit verbunden und auch ich habe immer – wenn auch nicht wirklich bewusst – angenommen, dass es Daten und Fakten gibt, die zeigen können, was stimmt und was nicht. Dabei war mir natürlich klar, dass manche Dinge sich aktuell einfach nicht beantworten lassen oder dass es sehr spezifische und komplexe Zusammenhänge gibt, für die sich „wahr“ oder „falsch“ als Kategorien nicht so richtig eignen. Und selbstverständlich habe ich auch immer betont, dass es neben Fakten auch Meinungen gibt – die dort, wo sie ihren Platz haben, auch unangetastet bleiben müssen. Das Beispiel, was ich an dieser Stelle immer anführe (ihr habt es von mir also vielleicht schon gehört, aber ich spreche gerne über Pizza, daher …), ist das von der Ananas-Pizza und dem Sonnenaufgang. Pizza Hawaii gehört allein in das Hoheitsgebiet der Meinungen. Ich kann der Ansicht sein, dass Ananas auf Pizza lecker ist. Ich kann genauso gut finden, dass das so eklig ist, dass es beinahe schon einem Verbrechen an der gesamten Pizzaheit grenzt. Kein Fakt, keine Erhebung und keine Berechnung, die ich anstelle, wird mich dazu berechtigen, jemandem in dieser Hinsicht eine andere Meinung aufzudrücken. Pizza-Puristen mögen das anders sehen.
Mit dem Sonnenaufgang verhält es sich anders. Selbstverständlich steht es mir frei zu behaupten, die Sonne ginge im Norden auf. Es stimmt dann bloß nicht. Und das kann ich auch beweisen.
In diesem Bereich der Fakten, wo Meinungen nichts verloren haben, war ich tatsächlich immer der Ansicht, dass es eine zugrundeliegende Wahrheit gibt, die ich – wenn es auch lange dauern mag oder aufwändig ist – prinzipiell herausfinden kann. Ein absolutistisches Weltbild im Prinzip, auf dem sich auch mein Herz für die Wissenschaft begründete: Ein System zu haben, um dem Kern der Dinge auf den Grund zu gehen. Um dann am Ende Recht haben zu können, wenn ich ehrlich bin.

Wer an eine Wahrheit glaubt, ist dumm?

Als ich mich aber während der Recherchen zu meiner Masterarbeit mit der Messung solcher Einstellungen zur Wahrheit beschäftigte, kam dann der rügende Schlag auf den Hinterkopf: „Multiplismus“, also die Akzeptanz, dass es mehrere Wahrheiten geben kann, wurde als „sophistiziertere“ Überzeugung beschrieben – der Absolutismus dagegen als unreifere Annahme. Sophistiziert ist auch nur ein smartes Wort für „smart“ und wollte mir mitteilen: Wenn du denkst, dass es eine Realität gibt, die irgendwann messbar sein wird, dann bist du noch nicht so wirklich weit gekommen in deiner kognitiven Entwicklung. Autsch.
Die Logik: „Meinungen“ und „Fakten“, wie ich sie unterschieden habe, sind nicht vollkommen voneinander trennbar. Es gibt immer eine subjektive Komponente bei Untersuchungen und Beweisen, die ich niemals vollständig eliminieren kann. In meinem Sonnenbeispiel könnte man vielleicht sagen, dass die Sonne schließlich nur deswegen im Osten aufgeht, weil ich die Richtung, aus der sie kommt, eben „Osten“ genannt habe. Diese Kritik ist natürlich extrem haarspalterisch und wenig zielführend. Der Name einer Himmelsrichtung ändert nichts an der Tatsache, dass der große Feuerball ziemlich verlässlich an bestimmten Orten in einer bestimmten Reihenfolge auftauchen wird – immer wieder. Aber das Prinzip illustriert gut die Idee hinter der Annahme mehrerer Wahrheiten.

Deutlicher wird es in der Forschung: Jedes Experiment, das ich durchführe, macht beispielsweise bestimmte Vorannahmen. Ganz ohne geht es nicht. Die Theorie, die ich habe, bestimmt meine Forschungsfrage. Und meine Forschungsfrage bestimmt wiederum, wie ich etwas messe. Angefangen damit, welches Messinstrument ich verwende. Oder welchen statistischen Test ich rechne. Über Letzteres kann man zum Beispiel stundenlange Debatten führen und das wird auch getan: Statistiker fechten gerade aus, ob die Bayessche Statistik oder die frequentistische Statistik der richtige Ansatz sind.*
Moment mal. Hängt das Ergebnis eines Experiments also bloß davon ab, welchen statistischen Test ich verwende? Stimmt am Ende der Spruch: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast?“ Wozu forschen wir dann überhaupt?
So drastisch ist es zum Glück nicht. Zwar mag ein anderer statistischer Test bei der ein oder anderen Kommastelle durchaus einen Unterschied machen. An der Grundaussage, nämlich ob es einen Effekt gibt oder nicht, ändert sich aber selten etwas. Oder anders betrachtet: Wenn mit einem anderen (plausiblen) Testverfahren plötzlich überhaupt nichts mehr dran ist an dem Befund, dann ist er vermutlich auch nicht so bahnbrechend. Oder ich habe irgendwas verhauen.
Starke, saubere Daten werden unter verschiedenen Betrachtungsweisen zum selben Schluss führen. Beziehungsweise: viele Daten werden das auf lange Sicht. Denn ein einzelner Test und eine einzelne Studie haben ohnehin nicht die Macht, Wahrheit aufzudecken, sofern man denn den Anspruch hat. Kern des wissenschaftlichen Gedanken ist es, eine Theorie erst dann zu akzeptieren, wenn sie sich über verschiedene Experimente und Herangehensweisen hinweg als stabil erwiesen hat. Das erklärt vielleicht auch den Gedanken: „Wenn man nur lange genug testet, kommt man irgendwann bei der Wahrheit an.“ Vielleicht erreicht man die Wahrheit niemals, aber eins ist zumindest sicher: Wenn man nur einmal und unsauber testet, dann findet man sie ganz sicher nicht.

In My Drunken Head**

Wenn man auf diese Art darüber nachdenkt, erscheint es tatsächlich ziemlich stumpf, von der „einen Wahrheit“ auszugehen. Langsam aber sicher habe ich also die subjektive Komponente von Wissen akzeptiert, aber bin ziemlich bald auf das nächste Problem gestoßen: Menschen können sehr unterschiedliche Dinge meinen, wenn sie von „mehreren Wahrheiten“ sprechen. Die ultimative Quelle der Erkenntnis war in diesem Fall, wie das oft so ist, ein Partygespräch. Wir unterhielten uns sehr allgemein über Informationen: Berichte in Zeitungen, wissenschaftliche Studien, Medien generell. Thematisch: Ernährung bis Politik. Ein Bier in der Hand und einen ebenso angetrunkenen wie verzweifelten Ausdruck auf dem Gesicht erläuterte mir einer der Gäste: „Ich lese jeden Tag drei Zeitungen. Ich informiere mich. Wirklich. Und ich versuche immer, verschiedene Meinungen zu hören. Aber weißt du, der eine sagt das, der andere sagt das, und ich kann das gar nicht überprüfen. Und, vielleicht gelten manche Dinge ja für den einen Menschen. Aber jeder reagiert ja anders.“
Ganz offensichtlich hatte auch er erkannt, dass Wahrheit eine subjektive Komponente hat. Und dass ihm allein niemals alle Komponenten, ob subjektiv oder objektiv, zugänglich sein werden. Dennoch widerstrebten mir seine Worte im weiteren Gesprächsverlauf bis an die Grenze meines Geduldsfadens – was nicht nur daran lag, dass er zuvor mein Studienfach desaströs missverstanden hatte (eigentlich okay – passiert häufiger, woher soll man’s auch wissen) und mich dazu aufgefordert hatte, spontan eine Persönlichkeitsanalyse an ihm durchzuführen. Aber ich hatte mir doch vorgenommen, mehrere Wahrheiten und die subjektive Komponente von Wissen stärker zu akzeptieren – wieso störte mich dann so, was er sagte? Was mir in diesem Moment gegen den Strich ging, war die vollkommene Manövrierunfähigkeit, in der mein Party-Gesprächspartner steckte. Eigentlich eher traurig, weil es ihn ja zu belasten schien.

Wie, fragte ich mich, kann man unterscheiden zwischen: „Je nach Perspektive kann alles wahr sein. Es ist nicht möglich, zu unterscheiden, was richtig und was falsch ist. Die Wissenschaft sagt heute das und morgen das. Daher ist es auch egal, was man macht.“ und auf der anderen Seite: „Je nach Perspektive mag man zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen über dieselbe Sache kommen. Daher können widersprüchliche Aussagen gleichzeitig existieren. Es ist aber möglich, diese Aussagen zu überprüfen und zu vergleichen, um zu einem Gesamtbild zu kommen.“
Einige Fragebögen, die absolutistische vs. multiplistische Weltbilder zu erfassen versuchen, machen diese Unterscheidung nicht wirklich. „Verschiedene Perspektiven“ und „Beliebigkeit“ liegt ziemlich dicht beieinander. Selbstverständlich bin ich nicht die Erste, die auf dieses Problem gestoßen ist. Deanna Kuhn*** beschränkte sich nicht auf die Gegenüberstellung von „Wissen als eine Wahrheit“ und „Wissen als gleichwertige Meinungen“. Neben diesen beiden Kategorien (Absolutismus und Multiplismus genannt) gibt es eine weitere Stufe: Evaluatismus.
Hier liegt der Knackpunkt, denn wenn wir Multiplismus und Evaluatismus vergleichen, landen wir bei genau der Differenzierung, die uns vorhin noch gefehlt hat: Während Multiplismus mehrere gleichwertige Wahrheiten annimmt, also davon ausgeht, dass jeder irgendwo Recht haben kann und dass alles im Prinzip aus Meinungen besteht, basiert Evaluatismus auf der Annahme, dass es zwar mehrere Wahrheiten mit einer subjektiven Komponente gibt – diese Wahrheiten aber nicht gleichermaßen wahr sind. Es wirkt erst mal merkwürdig, von unterschiedlichen „Wahrheitsgraden“ zu sprechen. Ist „wahr“ nicht wie „schwanger“? Ein bisschen davon geht nicht? Entweder, oder?

Ein bisschen wahr

Was wir mit dem Kunstgriff der Abstufungen von Wahrheit mit einbeziehen ist aber, dass es durchaus falsche Aussagen geben kann. Und wiederum Aussagen, die einige richtige Aussagen machen, aber den Punkt nicht so sehr treffen wie andere. Oder dass es Erklärungen gibt, die plausibler sind als andere. Anders als beim Multiplismus hängen wir nicht fest, müssen die Arme in die Luft werfen und sagen: „Ist doch eh alles egal!“ Evaluatismus ist im Gegensatz dazu eine sehr aktive Position. Ich kann Evidenz für verschiedene Behauptungen auswerten, mehrere Quellen zur Rate ziehen und diese unterschiedlich gewichten und auswerten. Ich kann mir ansehen, was die Gründe dafür sind, dass sich Aussagen widersprechen – sei es wegen methodischer Unterschiede (verschiedene Messinstrumente?) oder weil verschiedene, subjektive Betrachtungsweisen zugrunde liegen. Das ist nicht leicht, nicht immer zielführend und außerdem verdammt anstrengend. Was auch bedeutet, dass ich eine solche Auswertung nicht jedes Mal leisten kann. Wenn mein Arzt mir eine Behandlung vorschlägt, fange ich nicht an, Medizin zu studieren, Papers zu lesen und mich totzugooglen. Im Idealfall hat besagter Arzt das schließlich für mich getan.

Anders als bei den Theorien mit zwei Kategorien schließen sich die drei Positionen Absolutismus, Multiplismus und Evaluatismus nicht vollständig aus. Jeder Mensch mag eine „Hauptkategorie“ haben, in die er eingeordnet werden kann. Aber es ist durchaus möglich, sowohl absolutistischen wie auch evaluatistischen Aussagen zuzustimmen. Außerdem kann man je nach Themengebiet unterschiedliche Auffassungen haben. In der Physik mit ihren Formeln und Zahlen habe ich vielleicht absolutistischere Ansichten. In den Geisteswissenschaften komme ich womöglich eher auf die Idee, dass es eine subjektive Komponente hinter deren Aussagen gibt und nehme eher eine multiplistische oder evaluatistische Haltung an.
Denn Barzilai und Weinstock haben einen Fragebogen entwickelt, der die drei verschiedenen Perspektiven erfassen soll und gehen gemäß Deanna Kuhn von einer Entwicklung aus: Wir starten mit der absolutistischen Ansicht, dass es eine Wahrheit gibt. Durch Konflikte, die wir uns nicht erklären können und die Erfahrung mit Widersprüchlichkeit und Subjektivität werden wir dann multiplistischer und erkennen verschiedene Wahrheiten an. Wenn wir dann das evaluatistische Level erreichen, kommt die Fähigkeit dazu, diese auszuwerten, zu vergleichen und zu integrieren.

Das alles ist im echten Leben keine schnurgerade Entwicklung und die Kategorien überlappen teilweise. Vor allem sprechen wir von recht abstrakten Konstrukten und Gedanken, die sich gar nicht immer so einfach formulieren lassen. Immerhin denken die allermeisten Menschen nicht bewusst darüber nach, was Wissen oder Wissenschaft für sie bedeutet. Daher kann es schwierig sein, diese Haltungen über Fragebögen zu erfassen. Trotzdem scheint das gar nicht so übel zu klappen, jedenfalls scheint der Fragebogen von Barzilai und Weinstock die drei Kategorien über verschiedene Szenarien hinweg ganz ordentlich abzubilden.

Ganz im Sinne der Theorie hat sich mein Bild von Wissen und Wissenserwerb dadurch verändert, dass mir ein Konflikt vor die Nase gesetzt wurde. Durch das Nachdenken über die Unterschiede zwischen Absolutismus, Multiplismus und Evaluatismus, zwischen Meinungen und Fakten, zwischen einer und mehreren Wahrheiten und zwischen objektiver und subjektiver Komponente von Wissenschaft gehe ich nun anders an Informationen und Berechnungen an meinen eigenen Daten heran. Aber nicht nur das: Auch Aussagen darüber, wie Wissen gewonnen wird, nehme ich jetzt anders wahr. Zum Beispiel ist mir in meinen Lehrbüchern aufgefallen, dass häufig ein ziemlich absolutistischer Standpunkt vertreten wird. Ein klein wenig mehr Evaluatismus würde tatsächlich eher dem wissenschaftlichen Handwerk entsprechen, wie ich es kennengelernt habe.

Das bedeutet nicht, dass ich nun den Gipfel der Erkenntnis erreicht habe. Nur, weil jemand sagt, dass Evaluatismus, was auch immer das im Kern bedeutet, die richtige Haltung ist, heißt das nicht, dass das immer und überall so gilt – oder vielleicht immer noch zu kurz gedacht ist. Immerhin haben wir uns gerade erst mit dem Gedanken angefreundet, dass eine andere Perspektive auch zu einem anderen Schluss führen kann. Wenn dieser auch nicht gleichwertig „wahr“ sein mag.
Wissenschaft behält dabei ihre Bedeutung. Denn ob es nun eine einzige Wahrheit gibt oder nicht, brauchen wir dennoch ein Instrument, das es uns erlaubt, den Wahrheitsgehalt verschiedener Aussagen systematisch zu überprüfen. Obwohl wir die eine Wahrheit auch mit endloser Forschung (vermutlich) nicht erreichen können, sind wir ohne Wissenschaft und ihre Untersuchungsmethoden den „multiplen Wahrheiten“ mehr oder weniger hilflos ausgeliefert und können ihren Wahrheitsgehalt nicht einordnen.
Das Verständnis von Wissen ein Prozess und ich bin sicher nicht am Ende angekommen. Aber das Internet vergisst nicht und es wird bestimmt schaurig-unangenehm sein, diesen Text in einigen Jahren und mit neuen „Erleuchtungen“ erneut zu lesen. Ich freue mich drauf.


* Es ist nicht wichtig, die Debatte nachzuvollziehen und es gibt klügere Menschen als mich, die sich darüber klügere Gedanken machen als ich. Aber diesen Blogpost übers Münzenwerfen als „Bayesian“ oder „Frequentist“ und vor allem die Kommentare darunter fand ich sehr interessant – die wiederum zeigen, wie Bayessche Statistik mit Vorannahmen bzw. vorherigen Daten umgeht.

** Random Song Tipp: In My Drunken Head von Honig.

*** Super verwirrend übrigens: Deanna Kuhn ist die mit dem Modell rund um Wissen und Verständnis von Wissen. Thomas Kuhn wiederum war ein Wissenschafstheoretiker (bzw. Physiker), der weltberühmt ist für seine Beschreibung von wissenschaftlicher Revolution im Kontext von Paradigmenwechseln. Oder, anders gesagt: Für die Erkenntnis, dass wissenschaftliche Ergebnisse auch davon abhängen, welche Perspektive ein Forschungsfeld gerade eingenommen hat. Stopp. Wahrheit hängt auch von subjektiven Vorannahmen ab? Das kennen wir doch irgendwo her … genau.
Persönlich stimme ich ja dafür, dass Forscher, die so ähnliche Dinge sagen, nicht denselben Nachnamen führen dürfen. Aus diesem Grund ist Deanna Kuhn auch die einzige, bei der ich zusätzlich den Vornamen im Text angebe.


Quellen und erwähnte Links in Reihenfolge des Erscheinens, Stand 10.10.2018

[1] Fisher, M., Knobe, J., Strickland, B. & Keil, F.C. (2018). The Tribalism of Truth. Scientific American 318(2):50-53.
[2] Karlsson, B.S.A. & Allwood, C.M. (2016). What Is the Correct Answer about The Dress’ Colors? Investigating the Relation between Optimism, Previous Experience, and Answerability. Front. Psychol. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2016.01808
[3] Kuhn, D. (2000). How do People Know? Psychological Science, 12(1), 1-8.
[4] Barzilai, S., & Weinstock, M. (2015). Measuring epistemic thinking within and across topics: A scenario-based approach. Contemporary Educational Psychology 42, 141–158. http://dx.doi.org/10.1016/j.cedpsych.2015.06.006

[*] A Computer Scientist in a Business School – Are you Bayesian or a Frequentist? (Or Bayesian Statistics 101)
[**] YouTube – Honig – In My Drunken Head (Official Video) – honigsongs – 25.02.2013
[***] Tagesspiegel – Revolutionen in der Wissenschaf: Wenn Weltbilder ins Wanken geraten – 29.09.2012