Wissenschaft ist interdisziplinär und beim Austausch mit anderen Feldern guckt man manchmal ein bisschen blöd aus der Wäsche. Wenn Marc Bauer, der Jura studiert und in der Politik aktiv ist, mich zu meiner Einschätzung zu einer Debatte fragt, in der er gerade steckt, fällt mir spontan oft der ein oder andere kognitive Bias ein. „Komisch. Das Argument ist in der Diskussion kein einziges Mal gefallen“, sagt er dann manchmal. Umgekehrt berichte ich manchmal eifrig von Erkenntnissen und ihren Implikationen für die Rechtslage – und Marc erklärt mir dann, wieso das für die ganz alltägliche Anwendung vor Gericht überhaupt nicht praktikabel wäre.
Das schreit nach einem Gastbeitrag, in dem Marc die Fragen beantwortet, wie wissenschaftliche Disziplinen in Ausbildung und Umsetzung des Rechts eingebaut werden – und wo es hakt, wenn das nicht in ausreichendem Maße geschieht.


Wissenschaft und Wirklichkeit in juristischer Ausbildung und Praxis

Wie abgehoben ist mein Studiengang, wie verständlich die Fachsprache meiner Wissenschaft, wie nah dran am realen Leben meine Studieninhalte? Das fragen sich vermutlich alle angehenden Akademiker. Und die Antwort wird sein, dass es in einer hochmodernen, ausdifferenzierten Gesellschaft jede Menge Spezialisten braucht. Wir alle sind auf unsere Weise Fachidioten. Nun gibt es allerdings Studiengänge, in denen dies vielleicht problematischer ist als in anderen. Wer sein Leben lang im Labor oder hinter seinem Schreibtisch im Elfenbeinturm arbeitet und nur mit anderen Fachkollegen oder denen verwandter Wissenschaften zusammenarbeitet, kommt womöglich ganz gut durchs Berufsleben, ohne gelernt zu haben, dass die Dinge „da draußen“ vielleicht ein bisschen anders laufen, und ohne sich bemüht zu haben, seine Erkenntnisse auch Normalsterblichen erklären zu können. Das geht aber nicht immer.
Ein Arzt, der mit echten Patienten zu tun hat (zumindest lebenden und wachen), sollte ein Mindestmaß an Empathie haben und sich auch ohne Latein verständlich machen können. Noch größer ist aber die Erwartungshaltung an den Juristen. Denn der Jurist hat ein Fachgebiet, das selbst keine Grenzen kennt. Es gibt praktisch kein Problem, das nicht irgendwie auch eine rechtliche Komponente hat. Unsere moderne Gesellschaft wird bis ins kleinste Detail durch Gesetze und andere Rechtsregeln getaktet, jeder Bürger wird – in welcher Rolle auch immer – als Steuerzahler, Student und Autofahrer, als Verbraucher und Straftäter, durch das Recht betroffen. Vor dem Richter landen die mannigfaltigsten Fälle, erscheinen Menschen aller Berufe und Hintergründe.
Der Jurist muss also das pralle Leben kennen, ist quasi Universalexperte für alle Lebensbereiche, soweit sie eben durch das Recht geregelt werden. Die Rechtswissenschaft muss also eine besonders praxisorientierte Disziplin sein, und der Jurist besonders alltagstauglich. Die Realität sieht leider anders aus.

Lebensferne Ausbildung?

Wenn man in der Schule nicht mehr motiviert war zu lernen, und sich fragte, welchen Sinn das Lernen hat, hatten Eltern und Lehrer gleichermaßen den schönen Spruch parat, man lerne nicht für die Schule, sondern fürs Leben. Motiviert hat der Satz nie, und er ist auch nur halb richtig. Wenn Lernen einen Sinn hat, dann kann er ja nur in der Verwendung im Leben liegen. Wo auch sonst? Wenn mich die Gedichtsinterpretation im Leben nicht weiterbringt, dann wohl auch nicht nach dem Tod. Gemeint ist wohl, dass der Nutzen des Wissens im Laufe des Lebens schon noch zu Tage treten wird.  Aber vieles von dem, was man lernen soll, sowohl in der Schule als auch im Studium, ist eben nie von Relevanz. Das ist in Jura nicht anders. Nun sagt man bei solchen rein akademischen Streitigkeiten (ohne erkennbare Implikation für das „echte Leben“) oft, sie seien aber von wissenschaftlichem Interesse, und nur durch sie verstehe man das Gesamtsystem, aus dem sich dann die auch praktisch bedeutsamen Einzelfragen ableiteten. Das ist das Wesen der Rechtswissenschaft, soweit sie eben überhaupt Wissenschaft sein will: Als dogmatische Wissenschaft versucht sie vorgegebenen Stoff – die Summe an Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften – sinnvoll zu ordnen, zu systematisieren, auf höhere Grundsätze zurückzuführen. Allein, wenn der Gesetzgeber eine Einzelheit ändert, dann muss das System angepasst werden, nicht die Einzelheit an das System – und dann ist Systemverständnis eben doch zweitrangig, vielleicht sogar kontraproduktiv, wenn man noch in überlieferten Kategorien denkt.

Die Ausbildungsinhalte des Jurastudiums sind stetig gewachsen und halten mit der Zeit dennoch kaum Schritt. Der Jurist ist (auch) in einem unpolitischen Sinne ein sehr konservativer Mensch, der noch mit Sammlungen loser Blätter und in winziger Schrift verfassten Gesetzeskommentaren arbeitet. Der Zettelkrieg ist sozusagen in die Wiege gelegt. Die Literatur trägt in 100. Auflage noch den Namen eines (meist NS-belasteten) längst verblichenen Autors, und vor lauter Schwelgen in historischer Tradition geht zuweilen der Blick für das Hier und Jetzt verloren. Oft fehlt auch das Bewusstsein, dass es dem Angeklagten herzlich egal ist, ob er wegen der akademisch ausführlich abgegrenzten Tatbestände Diebstahl oder Betrug, Raub oder räuberische Erpressung verurteilt wird. Er will hauptsächlich wissen, ob er mit einer Geld- oder Bewährungsstrafe davonkommt.
Interdisziplinäre Fragen werden höchstens pflichtschuldig in einem Grundlagenfach besprochen, dessen Inhalt der Student mangels Examensrelevanz schnell wieder vergisst. Meist kommt man in dieser Hinsicht zudem mit rechtsgeschichtlichen Vorlesungen durchs Studium, die dann aber eher Jura im interdisziplinären Pelz sind. Rechtsphilosophie, aber vor allem auch die empirisch(er) arbeitenden Rechtssoziologie und Rechtspsychologie (die es als eigene Disziplin gar nicht gibt) kommen viel zu kurz; Kriminologie begegnet nur im Schwerpunktbereich Strafrecht.

Wenn Wissen und Fähigkeiten später gar nicht genutzt werden, mag das nicht nur daran liegen, dass sie an sich unnütz sind, sondern dass sie falsch abgefragt und dadurch auch falsch gelernt werden. Denn der gemeine Student lernt nun einmal für die Prüfung, nicht fürs Leben. Je weiter die Prüfung also weg von der Realität ist, desto weniger repräsentativ ist sie. Nun muss man wissen, dass der Jurist im ersten Examen noch gar nicht praxisnah arbeiten soll; dafür sind das Referendariat und das zweite Examen da. Er soll, losgelöst von der Arbeitsweise eines Anwalts, Richters oder Staatsanwalts, abstrakt die Rechtslage ermitteln und begutachten, und zwar anhand von feststehenden Sachverhalten, in denen insbesondere die Gedanken der Beteiligten wiedergegeben sind – und zwar oft schon in der Sprache der Juristen, so als ob vor Gericht nur andere Juristen stünden, die im Kopf auch immer selbst gleich die Formeln des Gesetzes benutzen. So nehmen Täter gerne den Tod oder die Verletzung ihrer Mitmenschen billigend in Kauf. Das ist der Hinweis darauf, dass Vorsatz gegeben ist. Dass diese Feststellung in der Praxis extrem aufwändig ist, dass so niemand denkt, wird nicht gelehrt.

Zwischen zwei Schluck Rotwein
Die Annahme, dass der Mensch ein rational handelndes Wesen ist, das sich bestenfalls mit mathematischen Modellen beschreiben lässt, ist eine erstaunlich verbreitete Annahme. Daniel Kahneman erhielt 2002 sogar den Nobelpreis für seine Einbeziehung des irrationalen Menschenbildes in die (Wirtschafts-)Forschung. Dabei wissen wir intuitiv eigentlich, dass wir in unserer Wahrnehmung und in unserem Denken Fehler machen, manchmal sogar Dinge tun, die wir selbst später nicht mehr nachvollziehen können. Das wissen auch Wissenschaftler. Trotzdem von einem rationalen Menschen auszugehen, kann sehr hilfreich für allgemeine Theorien oder Leitfäden idealen Verhaltens sein. Auch die Diskrepanz zwischen Idealbild und tatsächlicher Abweichung kann man so untersuchen.
Dabei darf man dann aber eben nicht vergessen, dass man diese Annahme eben nur der Einfachheit halber gemacht hat – nicht, weil es tatsächlich so wäre.

Stattdessen dominieren das Examen uralte Rechtsfragen, die immer wieder aufgewärmt werden, Theoriestreitigkeiten, die keinen Richter interessieren (aber die Professoren), Sachverhalte, die zuweilen den Geist des 19. Jahrhunderts atmen, als man noch mit praktischer Berechtigung ausgiebig Fragen zur Briefform diskutieren konnte und Verträge nicht in aller Regel durch AGBs standardisiert waren. Und weil es juristisch so schön ist, werden Minderjährigen diverse Rechtsstreitigekeiten angedichtet, die in deren Lebenswirklichkeit eher selten vorkommen. Zuweilen erben Minderjährige dann sogar – nicht als Kapiatalgesellschaft oder Genossenschaft, sondern privat als Kaufmann geführte! – Banken und führen diese in eigener Regie. Praktische Probleme dagegen werden oft bewusst durch gekünstelte Szenarien umgangen.

Die juristische Ausbildung ist also weit davon entfernt, praxistaugliche, lebensnahe Juristen heranzubilden. Und das ist ein Problem für die gesamte Gesellschaft. Denn der Rechtsstaat lebt nun einmal vom Recht, von Urteilen und der Anwendung von Gesetzen. Wenn die Auffassung sich durchsetzt – wie es zumindest in den Kommentarspalten von Facebook ja der Fall ist –, dass das Recht lebensfern und dem Volkswillen widersprechend, irgendwie undemokratisch, die Richter abgehoben, die Urteile ungerecht sind, dann untergräbt das die Autorität des Rechts – und damit unsere ganze Gesellschaft. Niemandem ist geholfen, wenn man Populisten nachrennt – oder gar dem wütenden Mob, der zuverlässig nach schweren Straftaten Tod, Folter oder zumindest lebenslang fordert. Aber umgekehrt nützt eine mit sich selbst im Reinen befindliche Jurisprudenz auch nichts, wenn sie nicht mehr zur Bevölkerung durchdringt, und diese bei den Wahlen dann solchen Leuten die Gesetzgebungsmehrheiten in die Hand gibt. Das Jurastudium ist für die Legitimität des Rechtsstaats von entscheidender Bedeutung.

Lebensfernes Recht?

Wie praxisnah und unbürokratisch unser Recht ist, würde sicher viele Seiten füllen. Ein schönes Beispiel ist das Verbraucherschutzrecht. Das lässt sich oft mit dem Satz „gut gemeint ist nicht gut gemacht“ beschreiben. Der Ausgangspunkt ist erfrischend lebensnah-psychologisch: Es gibt Situationen und Konstellationen, in denen der Verbraucher schutzwürdig ist. Der Verbraucher trifft Entscheidungen womöglich voreilig, er wird überrumpelt, fühlt sich bedrängt. Hierfür gibt es Formerfordernisse wie die notarielle Beurkundung oder Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften, Kaffeefahrten und in ähnlichen Fällen. Auch neigen Konsumenten zur Überschuldung, wenn sie sich unkompliziertes Shoppen auf Kredit gönnen. Deswegen gibt es auch bei Verbraucherdarlehen Widerrufsrechte. Das ist an sich auch sinnvoll. Nicht ganz bedacht wird allerdings die Neigung der Menschen, an einer einmal getroffenen Entscheidung festzuhalten.

Zwischen zwei Schluck Rotwein
Das schönste Widerrufsrecht nutzt natürlich nichts, wenn man gar nicht immer davon Gebrauch macht, wenn man es eigentlich bräuchte. Es kann verschiedene Gründe geben, warum man eine Entscheidung nicht rückgängig macht, obwohl sie eigentlich Bockmist war.
Fast schon im Volksmund bekannt ist das Phänomen der kognitiven Dissonanz. Das beschreibt das unangenehme Gefühl, wenn eigene Kognitionen (zum Beispiel Gedanken oder Einstellungen) nicht zusammen passen – oder Kognitionen und Handlungen. Wir bemühen uns, diesen Zustand zu reduzieren, indem wir ein wenig daran schrauben. Ich könnte mich zum Beispiel für einen sparsamen Menschen halten. Naja, zumindest einen, der kein Problem im Umgang mit Geld hat. Damit kollidiert aber die Kreditkartenrechnung vor meiner Nase. Unangenehm. Ich fühle mich besser, wenn ich mir also überlege, dass ich all die Dinge, die ich da gekauft habe, einfach brauchte. Oder dass der Doppelsitzer-Rasenmäher mit extra titanbeschichteter Klinge mich kurzfristig zwar ins Minus treibt, sich auf lange Sicht aber auszahlen wird.
Eng damit verbunden ist auch die Sunk Cost Fallacy: Wenn wir bereits investierte Kosten (nicht notwendigerweise Geld; auch aufgebrachte Zeit fällt unter „Kosten“) zu stark gewichten, kann es passieren, dass wir ein verlorenes Schiff nicht verlassen wollen. Ich habe doch schon drei von vier Raten für das absolut ineffektive Diät-Programm gezahlt (und die ekligen Shakes getrunken) – jetzt könnte ich zwar aussteigen und mir die letzte Rate sparen. Aber dann wären doch all die vorher investierten Ressourcen vergebens gewesen! Dass wir an dieser Stelle 200 weitere Euro Minus machen und das mit der Entscheidung, loszulassen vermieden hätten, sehen wir nicht.

Ein Instrument im Verbraucherschutz ist allerdings häufig ganz sinnlos oder sogar kontraproduktiv: Nämlich die Informationspflichten. Dem Kunden werden regelmäßig seitenlange, eng bedruckte Texte ausgehändigt. Diese Flut an Informationen verstellt den Blick für die wirklich wichtigen Infos – und senkt die Motivation, sich das Ganze überhaupt anzusehen und durchzulesen.

Psychologisch interessant ist, welche subjektiven, also die Gedankenwelt des Täters betreffenden Kriterien, relevant werden. Dem Täter „in den Kopf schauen“ will man besonders im Strafrecht, weil dort die Schuld als höchstpersönliche Vorwerfbarkeit das zentrale Kriterium ist. Ein schönes Beispiel liefert die extrem wichtige Abgrenzung von („bedingtem“) Vorsatz und („bewusster“) Fahrlässigkeit. Vorsatz soll (bei einem Tötungsdelikt) vorliegen, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt. Oder wenn er sich zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, um sein Ziel zu erreichen (Willenselement). Selbst wenn besagter Todesfall ihm eigentlich gleichgültig oder an sich unerwünscht ist. Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tötung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, dass der Tod nicht eintreten wird.
Anhand  dieser Formeln entscheidet sich, ob der Täter mit einer Höchststrafe von 5 Jahren rechnen muss (dabei sind auch noch Geldstrafe und Bewährung möglich), oder er wegen Totschlags (im Regelfall) mindestens 5 Jahre, bei Hinzukommen eines Mordmerkmals grundsätzlich lebenslang bekommt. Sind die Formeln der Rechtsprechung psychologisch nachvollziehbar?
Wer mit 170 km/h, rote Ampeln überfahrend, ein Straßenrennen in einer Großstadt fährt, wird sicher die Möglichkeit eines tödlichen Unfalls erkennen. Findet er sich mit dieser Möglichkeit ab, oder vertraut er darauf, es werde schon nichts passieren? Ist es überhaupt – von Fällen schwerer psychischer Störungen abgesehen – möglich, dass jemand „ernsthaft“ auf einen guten Ausgang vertraut, wenn er eine sehr naheliegende Gefahr erkannt hat? Lassen sich „Wissen“ und „Willen“ so klar abgrenzen? Wie soll man sich das „Abfinden“ vorstellen, wenn man gar nicht will, dass die Tat eintritt? Wer weiß, dass seine Handlung gefährlich ist, und sie trotzdem durchführt, „findet sich“ im umgangssprachlichen Sinne damit ab, einfach indem er handelt. Welcher Gedanke muss da noch dazu kommen? Vor allem aber setzen beide Formeln voraus, dass überhaupt ein „Willenselement“ vorhanden ist, nämlich entweder „Sich-Abfinden“ oder „Vertrauen“. Ist es nicht auch denkbar, dass ein Täter gar nichts denkt? Dass er sich in einem Adrenalinrausch befindet, und er von Instinkten und antrainierten Reflexen gelenkt wird, wenn er im Auto sitzt und das Rennen gewinnen will? Man könnte sogar schon daran zweifeln, ob der Täter überhaupt noch die Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs erkennt. Aber selbst wenn er das schafft, liegt es doch nahe, dass er sich einfach keine weiteren Gedanken mehr macht, die Gefahr beiseite schiebt. Das ist aber, wenn man präzise ist, weder ein Sich-Abfinden noch ein ernsthaftes Vertrauen. Dieser Fall des Rauschtäters scheint nicht erfasst zu sein. Im Prozess ist das kein Problem, weil man dann in dubio pro reo einfach auf Fahrlässigkeit als günstigere Feststellung erkennt. Aber die Praxistauglichkeit dieser Formeln ist dann doch sehr erschüttert.

Zwischen zwei Schluck Rotwein
„Gar nichts denken“ ist eine verdammt schwierige Aufgabe. Das weiß jeder, der das auf Aufforderung schon mal tun musste. Vorsatz oder nicht ist aber in der Tat eine extrem schwierige Unterscheidung. Können wir so eine Trennung überhaupt rechtfertigen? Wir scheitern schon daran, Bewusstsein anhand von Hirnaktivität endgültig dingfest zu machen. Es gibt Vertreter der Philosophie, die überzeugt sind, dass unsere Entscheidungen sowieso vorherbestimmt sind und wir keinen freien Willen haben.
Viele Handlungen laufen automatisch ab, doch ein großer Teil von ihnen kann zumindest durch willentliche Kontrolle moderiert werden. Atmen zum Beispiel klappt auch wunderbar, ohne dass wir darüber nachdenken. Aber wenn wir wollen, können wir die Luft auch für eine Weile anhalten. Auch Hormonen sind wir nicht vollkommen willenlos ausgeliefert. Man müsste jedenfalls einige Kurven fliegen um anzunehmen, dass jemand sich versehentlich in seinen versehentlich rechtswidrig aufgemotzten Wagen setzt, versehentlich den Schlüssel umdreht, um dann versehentlich jenseits jedes Tempolimits durch die Stadt zu rasen. Genau so praxisfern ist es aber wohl anzunehmen, dass die meisten dieser Menschen ins Auto steigen und sich sagen: „Klar könnte ich dabei jemanden tot fahren. Und wenn schon.“
Selbst wenn wir mittels Hirnscans rückwirkend ganz genau bestimmen könnten, dass jemand wirklich und ehrlich überzeugt davon war, dass gar nichts Schlimmes durch sein Handeln passieren kann: Was würde das dann bedeuten? Strafffrei, weil man „nur ein bisschen blöde“ war? Eine recht zynische Betrachtungsweise.
„Die Macht der Situation“ wird nicht umsonst so pathetisch genannt; sie kann sehr stark sein und unser Handeln leiten. Ob das in Ordnung ist oder Bestrafung erfordert, bewertet Wissenschaft in der Regel nicht. Aber sie kann helfen, Verhalten in einem solchen Kontext einzuordnen. Wenn wir wissen, dass die allermeisten Menschen in Notsituationen nicht helfen – dann betrachten wir eine unterlassene Hilfeleistung womöglich mit anderen Augen. Das löst unser moralisches Dilemma aber noch nicht. Selbst wenn wir wissen, dass nicht zu helfen „normal“ ist, ändert das ja nichts an der Schädlichkeit dieses Verhaltens. Erklären kann entschuldigen – muss es aber nicht. Die Entscheidung über genau diese Frage ist manchmal eher subjektiv-moralischer als wissenschaftlich-empirischer Natur.

Biases bei der Rechtsanwendung

Eine beliebte Aufgabe für den Juristen ist es, zu beurteilen, ob jemand nach seinem jeweiligen Kenntnisstand und unter den jeweiligen Umständen pflichtgemäß gehandelt hat, zum Beispiel ein Polizist auf Grundlage einer nachvollziehbaren Gefahrenprognose. Gesprochen wird meist von einem Urteil aus einer „ex-ante“-Perspektive. Das Problem hierbei: Hinterher ist man immer schlauer. Der Richter weiß, dass die Prognose falsch, das Verhalten objektiv fehlerhaft war. Er wird nun dazu neigen, den Handelnden verantwortlich zu machen, weil er es besser hätte wissen müssen.
Wirklich relevant wird es allerdings im Prozess, besonders im Strafprozess. Hier lauert eine Vielzahl psychologischer Hürden. Nicht umsonst heißt der deutsche Strafprozess „reformierter Inquisitionsprozess“. Denn er hat sich auch dem von der Kirche durchgesetzten Inquisitionsprozess entwickelt. In diesem war der Richter gleichzeitig Ankläger und Ermittler (also auch für die Durchführung der Folter zuständig). Dass dieses System zulasten des Angeklagten wie der Wahrheitsermittlung geht, hat man inzwischen eingesehen. Gegenüber dem reformierten System aber fehlt das kritische Bewusstsein.
Das Strafverfahren beginnt normalerweise mit der Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft, über die in einem gesonderten sogenannten Zwischenverfahren zu entscheiden ist. Das Gericht hat zu entscheiden, ob der Angeschuldigte der Tat hinreichend verdächtig erscheint. Bejaht das Gericht dies, findet die Hauptverhandlung statt. Den Richtern wird im Zwischenverfahren also eine Prognose für die Hauptverhandlung abverlangt. Das ist sinnvoll; es soll verhindert werden, dass jemand wegen eines offenkundig unstimmigen Vorwurfs einem längeren Prozess ausgesetzt wird. Das Bedenkliche daran: Für die Durchführung des Zwischenverfahrens sind dieselben Richter zuständig wie in der Hauptsache, müssen also ihre eigene Prognose überprüfen. Irren mag menschlich sein – es einzugestehen, weniger.
Im deutschen Strafprozess wird in der Hauptverhandlung der ganze Fall durchgegangen, sodass ein Zuschauer, vor allem aber auch der Angeklagte, den Vorwurf und die Beweislage nachvollziehen kann. Ohne dass sie die Vorermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft und die Akten kennen. Der Richter aber kennt die Akten. Und diese enthalten ausschließlich die Sichtweise von Staatsanwaltschaft und Polizei. Dadurch ist der Richter schon von Anfang an voreingenommen. Die Hauptverhandlung verläuft dann so, dass die Hypothesen der Staatsanwaltschaft bestätigt werden. Dieser Inertia-Effekt ist ein Argument dafür, dass Laienrichter sinnvoll sind – und natürlich vorher nicht die Akten lesen dürfen.
Manche Biases sind so greifbar, dass man sich fragt, wie es sein kann, dass sie nicht schon seit Jahrzehnten erkannt und angegangen worden sind. Im deutschen Strafprozess verkündet der Richter sein Urteil, und schreibt erst danach das Urteil samt Urteilsbegründung nieder. Es versteht sich von selbst, dass der Gang des Prozesses dann so dargestellt wird, dass er auch zum bereits gefallenen Urteil passt. Das wäre ja noch erträglich, wenn es ein objektives Wortprotokoll gäbe, wie man sie aus amerikanischen Filmen kennt. Das Gerichtsprotokoll aber enthält nur die wesentlichen Förmlichkeiten.

Zwischen zwei Glas Rotwein
Hier kommen diverse prominente Biases, also Verzerrungen, zum Tragen. Zum einen ist das der Hindsight Bias, der beschreibt, wie die Vorhersehbarkeit eines Ereignisses in der Rückschau überschätzt wird. Eigentlich waren die späteren Geschehnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung und bei dem Wissen, dass der Entscheidende hatte, gar nicht vorhersehbar. Weil wir das Ergebnis aber kennen, sehen wir das anders.
In eine ähnliche Kerbe schlägt der Outcome Bias: Wir beurteilen die Qualität einer Entscheidung anhand ihres Ergebnisses. Das klingt erst mal nützlich, ist es aber nicht immer. Sagen wir, ein schwer verletzter Patient kommt in die Notaufnahme und der Arzt muss zwischen zwei Behandlungsmethoden entscheiden. Er wählt Methode A – und der Patient stirbt. Man neigt nun dazu, dem Arzt die falsche Wahl zu unterstellen. Wenn aber Methode A eine 20%ige Chance für den Patienten bedeutet hat und Methode B eine 1%ige, war die Entscheidung absolut richtig. Es stand bloß sowieso schon sehr schlecht für den Patienten. Trotzdem neigen Menschen sehr penetrant dazu, das Resultat einer Entscheidung selbst dann zur Bewertung der Qualität einzubeziehen, wenn es offensichtlich irrelevant ist.

Der Richter, der einen Fall beurteilt, dem er vor der Verhandlung bereits eine Prognose zugewiesen hat, unterliegt wieder der bereits erwähnten kognitiven Dissonanz, sollte er im Laufe der Verhandlung einen anderen Standpunkt entwickeln. Es kann dann zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung kommen, ein beliebtes Motiv in Film und Literatur: Aufgrund einer Vorhersage verhalten wir uns so, dass besagte Vorhersage überhaupt erst möglich wird. Ich mag den Eindruck haben, dass der neue Kollege mich nicht leiden kann. Das stimmt zwar nicht, aber trotzdem verhalte ich mich ihm gegenüber nun sehr argwöhnisch. Was wiederum dazu führt, dass der neue Kollege mich als sehr schroff und zurückweisend wahrnimmt. Seinerseits reagiert er eher reserviert. Ha! Sag ich doch! Der kann mich nicht ausstehen!
Heikel ist vor Gericht auch damit einhergehende selektive Wahrnehmung. Indizien, die zum „geplanten“ Urteil passen, wird mehr Beachtung geschenkt, als Argumenten, die dagegen sprechen.

Schon die Zeugen selbst können von z.B. Polizeiberichten in ihrer eigenen Erinnerung beeinträchtigt werden. Elizabeth Loftus zeigt in ihrer Forschung eindrucksvoll, dass selbst die Fragestellung eine Erinnerung verzerren kann. Zeugenaussagen gelten daher als besonders fragil und praktisch unverwertbar, sobald eine suggestive Befragung stattgefunden hat, die den Zeugen in eine andere Richtung gelenkt hat, oder er mit Zeitungsartikeln oder anderen Zeugenaussagen in Kontakt gekommen ist. Wenn schon der Zeuge durch Polizeiberichte beeinflusst werden kann – wie geht es dann erst dem Richter, der erst mit dem nachträglichen Bericht und dann mit dem realen Zeugen konfrontiert wird?

Richter und Staatsanwalt sind aus guten Gründen zwei getrennte Rollen im Strafprozess. In manchen Justizverwaltungen in Deutschland verlaufen aber die Karrieren in einem Zick-Zack-System: Man arbeitet sich abwechselnd in Staatsanwaltschaft und Richterschaft hoch. Ein solcher Schulterschlusseffekt geht zulasten des Angeklagten. Denn der Richter kann sich so womöglich zwar gut mit der jeweiligen Staatsanwatschaft identifizieren – aber weniger mit dem Verteidiger. Doch auch ohne konkrete Vorbeschäftigung: Staatsanwälte und Richter haben dasselbe Studium abgeschlossen, sprechen die gleiche Fachsprache, und im Referendariat lernt man in der Regel beide Rollen kennen (wenn auch nicht gleichzeitig Staatsanwalt und Straf-Richter).

Was eben fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass Juristen keine „Rechtsmaschinen“ sind, sondern Menschen mit Emotionen, Vorurteilen und Vorverständnissen. Die Art und Weise, wie ein scheinbar neutraler Text formuliert ist, oder ein Sachverhalt wiedergegeben wird (egal ob durch Anwälte, die Polizei oder den Richter der unteren Instanz) beeinflusst den Rezipienten. Die öffentliche Stimmung spielt eine Rolle (und sei es womöglich entgegen deren Wunsch; aus einer Trotzreaktion heraus könnte zum Beispiel ein bewusst mildes Urteils verhängt werden, weil der Richter sich „frei“ von der Stimmung machen oder zeigen will, dass nicht der Mob entscheidet), die Strafforderung des Staatsanwalts hat eine Ankerwirkung, und sogar Tag und Uhrzeit sollen Auswirkung auf das Straffmaß haben.

Zwischen zwei Schluck Rotwein
Ich könnte zu 90% der genannten Biases jetzt dieselbe Verlinkung einfügen – oder euch ganz allgemein Daniel Kahnemans „Schnelles Denken, Langsames Denken“ ans Herz legen. Der hat nämlich die meisten der aufgeführten Verzerrungen beschrieben und experimentell überprüft. Und für Teile seiner Arbeit, wie oben erwähnt, den Nobelpreis kassiert.

Die vielleicht schönste Unbedarftheit zeigt sich aber im Markenrecht. Hier muss der Richter beurteilen, wie eine Marke wirkt, wie sie vom potenziellen Kundenkreis wahrgenommen wird. Soweit dies Fachkreise wie Unternehmer oder Fachhändler oder spezielle Berufsgruppen betrifft, muss der Richter dies durch Sachverständigengutachten klären. Geht es aber um Marken, die sich an den Durchschnittsverbraucher richten – zum Beispiel Marken für Bekleidung, Alkohol oder Handys -, verzichten die Richter meist darauf. Und zwar mit dem Argument, sie seien selbst Teil der angesprochenen „Verkehrskreise“, und könnten das aus eigener Sachkunde entscheiden. Nun ist es natürlich richtig, dass Richter auch wie normale Menschen einkaufen oder shoppen gehen (sie verdienen auch nicht besonders viel), aber sie sind eben Juristen. Und vor allem Juristen, die sich tagtäglich mit Marken auseinandersetzen. Sie können also beim besten Willen nicht beurteilen, wie ein ganz normaler Verbraucher diese Marken wahrnimmt.

Folgerungen

Das Jurastudium darf nicht mehr in einem luftleeren Raum stattfinden. Interdisziplinäre Ansätze sind zu stärken – gerade nicht (nur) in abgetrennten Grundlagenvorlesungen, sondern auch en passant im normalen Vorlesungsstoff.  Was wir brauchen, ist eine psychologische Grundausbildung der Juristen. Sie müssen in der Lage sein, sich selbst und ihre menschlichen Fehler kritisch reflektieren zu können. Es braucht eine neue, realistischere Art der Fallgestaltung im Examen. Mit anderen Worten, auch die Juristen müssen raus aus dem Elfenbeinturm – rein ins Leben.


Marc Bauer (23) studiert Jura an der Uni Köln und ist im Studium erstmals über das Exzellenzseminar Studium plus vertieft mit wissenschaftlichen Inhalten in Berührung gekommen – und beschäftigt sich seitdem auch kritisch mit dem eigenen Fach. Mit Jura setzt er sich auch politisch auseinander im Landesarbeitskreis Strafrecht der Jungen Liberalen NRW. Rotwein mag er nicht so – Weißwein dafür umso lieber, gerne von der Mosel.

 


Quellen und erwähnte Links in Reihenfolge des Erscheinens, Stand 06.04.2018, 15:42

[1] FAZ – Nobelpreis 2002: Wirtschafts-Nobelpreis für die Amerikaner Kahnemann (sic) und Smith
[2] Deutschlandfunk Kultur – Wissenschaft – Was ist Bewusstsein? (Archiv) – 14.08.2014
[3] SPIEGEL ONLINE – Psychologie: Warum hilft niemand? – 10.06.2009 – 16:11
[4] Baron, J. & Hershey, J.C. (1988). Outcome Bias in Decision Evaluation. Journal of Personality and Social Psychology 54(4), 569 – 579.
[5] TED Talk – Elizabeth Loftus: Die Fiktion der Erinnerung – 06.2013
[6] Daniel Kahneman – Schnelles Denken, Langsames Denken