Heureka! Evidenzbasierte Nasen wie ich atmen auf und blicken ergriffen dem Lichtstreif am Horizont entgegen: Deutsche kaufen weniger homöopathische Mittel! So schreibt es jedenfalls der Spiegel, und nicht nur der. Die gesunkenen Verkaufszahlen der Zuckerkügelchen kullern bereits durch die freudestaumelnden Medien. Ich freue mich auch, aber halte mitten im Luftsprung inne. Moment mal.

2017 wurden 53 Millionen Packungen homöopathischer Präparate verkauft. 2016 55 Millionen. Unabhängig von der Frage, wie „Verpackung“ gezählt wird (und ob letztes Jahr nicht einfach weniger Packungen, dafür die XXL-Versionen über die Ladentheke gingen), muss man sich da doch überlegen: Ist das überhaupt weniger?
Nein, ich bin nicht blöd. Ich sehe selbst, dass 53 eine kleinere Zahl ist als 55. Deskriptiv. Was heißt das nun? Eine Zahl kann zwar kleiner sein als eine andere, betrachtet man aber den Kontext, wird man diesen Abstand womöglich als nichtig abtun. Ein Beispiel: Wir wollen wissen, ob ein Würfel gezinkt ist. Wir erwarten also, dass in einem von sechs Fällen eine Sechs fällt. Das heißt, wenn wir 6.000 Mal würfeln, sollten 1.000 Sechsen dabei sein. Sagen wir, wir haben viel Geduld und probieren das mal aus. Am Ende haben wir 999 Sechsen geworfen. Eine weniger als die erwarteten 1.000. Würden wir nun sagen, dass der Würfel gezinkt ist, weil er nicht die gewünschten 1.000 Sechsen produziert hat? Natürlich nicht. Gewisse Zufallsschwankungen sind uns zumindest in Maßen bekannt. Wenn bei einer Klausur ein Student eine 1,3 und ein anderer eine 1,7 erhält (Noten dazwischen existieren nicht; die Stufen lauten 1,0 – 1,3 – 1,7 – 2,0 …), dann würden wir den 1,3er-Kandidaten wohl nicht als erwiesenermaßen besser als den Kollegen bezeichnen.
Es ist durchaus möglich, dass die 53 Millionen Verkäufe eine Laune des Zufalls sind und sich statistisch gesehen gar nicht von den 55 Millionen unterscheiden. Wir können das berechnen und herausfinden, ob 53 Millionen im Kontext der Verkäufe signifikant niedriger ist als 55. Das bedeutet, wir beziehen die gegebenen Schwankungen in den Daten mit ein und können dann bestimmen, ob die vorliegende Veränderung um 2 Millionen normal ist im Rahmen des üblichen Auf und Abs – oder ob die Verkäufe tatsächlich stärker zurückgegangen sind, als sich durch bloßen Zufall erklären ließe.Allerdings geben Zeitungen solche Dinge in der Regel nicht an. Vielleicht will man den Leser nicht verwirren. Vielleicht gibt es keinen Zugriff auf das vollständige Datenset. Basierend auf den Daten, die im Spiegel präsentiert werden, habe ich auch nur einen Datenpunkt pro Jahr. Und das für nur sechs Jahre. Ich kann allenfalls basierend auf den bisherigen Verkaufszahlen die Abweichung vom Mittelwert bestimmen. Von 2012 bis 2017 wurden im Mittel 51 Millionen Packungen homöopathischer Mittel verkauft. Die Standardabweichung, also die übliche Schwankung um den Mittelwert, liegt bei etwa 3,95 Millionen (runden wir mal auf 4 Millionen). Nach oben und nach unten. Das bedeutet, selbst, wenn man eher konservativ denkt, kann man eine Schwankung zwischen 47 (51 – 4) und 55 (51 + 4) Millionen Verkäufen erwarten. Was wiederum bedeutet: 53 Millionen Verkäufe sind gar nicht so anders als die durchschnittlichen Zahlen der letzten Jahre.
Auch heißt es im Artikel, dass der Umsatz leicht gestiegen sei. Der Focus relativiert das an den Rabatten, die Kunden in der Apotheke auf rezeptfreie Medikamente erhalten und schreibt, wenn man das berücksichtigt, sinken die Einnahmen leicht. Auch hier würde ich sagen: verschwindend gering.
Aber Artikel auf, Artikel ab wird bereits über die Gründe des Rückgangs der Verkaufszahlen spekuliert. Sinkendes Vertrauen durch die kritische Berichterstattung? Aufgeklärtere Ärzte, die weniger Zuckerkügelchen verschreiben?
Schön wäre es. So wie ich das sehe, ist es aber noch viel zu früh zum feiern. Wir müssen sehen, ob sich der Trend in den nächsten Jahren fortsetzt. Vielleicht stimmt es und wir haben gerade das Plateau erreicht, von dem aus es wieder abwärts geht. Vielleicht handelt es sich auch um die übliche Schwankung in den Verkäufen und nächstes Jahr sind es wieder 2 Millionen Verpackungen mehr.
Immerhin muss ich sagen: Selbst stagnierende Zahlen sind besser als rasant steigende Zahlen. Es könnte schlimmer sein.


Quellen und erwähnte Links in Reihenfolge des Erscheinens, Stand 15.02.2018, 17:12

[1] SPIEGEL ONLINE – Homöopathie: Deutsche kaufen weniger homöopatische Mittel – 14.02.2017 – 14:31
[2] FOCUS online – Homöopathie: Verkauf homöopathischer Mittel sinkt – 14.02.2017 – 7:29