Peter Scholze hat die Fields-Medaille gewonnen, den „Nobelpreis der Mathematik“. Und diese damit seit 32 Jahren erstmalig wieder nach Deutschland geholt. „Wieder“ klingt so nach Routine – das Ding geht erst zum zweiten Mal überhaupt nach Deutschland. Kein Wunder, dass die Medien voll davon sind. Zumal Scholze auch sonst ganz und gar ein Wunderkind ist. Seine kognitiven Fähigkeiten lassen jeden Vollblut-Nerd vor Neid erblassen und durch sein herausragendes Gedächtnis und eine Vorstellungskraft, die ihre Gleichen sucht, hat er auch genau das richtige Handwerkszeug in die Wiege gelegt bekommen, um komplexe mathematische Rätsel lösen zu können. Oder um mit 24 bereits Professor zu werden. Es ist beinahe schon absurd. Würde ich das als Film sehen, würde ich wohl glauben, das Drehbuch sei etwas an den Haaren herbeigezogen.

Not your everyday nerd

Auch jetzt ist der Bursche mit seinen 30 noch blutjung. Und macht sich auch richtig gut auf den Fotos, die jetzt durch die Presse wandern. Ohne in die Klischeekiste greifen zu wollen, stellt man sich so keinen theoretischen Mathematiker vor. Einen, der Zahlen im Kopf umherschiebt, bei denen anderen selbiger ganz ordentlich zu schwirren beginnt.
Doch nicht nur das. Erwartet man jetzt einen verschrobenen Kerl, der sich nicht ausdrücken kann und in seiner ganz eigenen Welt steckt, wird man eines Besseren belehrt. Scholze, so die Zeitungsartikel und Interviews mit seinen Wegbegleitern und Mentoren, die aktuell jeden Newsfeed fluten, könne komplexe Zusammenhänge mit einfachen Worten auf den Punkt gebracht erklären. Und zwar so, dass selbst ältere Studenten sich gelehrt fühlen – und nicht belehrt. Das ist eine Gabe, die jeder Lehrende sich wünscht. Wenn man erst mal das tiefe Verständnis für ein Thema aufgebracht hat, fällt es schwer, die Worte die man darum macht zu reduzieren.
Verdammt. Der Typ ist ein Genie und dann noch nicht mal komisch oder ein Arschloch dabei? Wo soll ich denn nun hin mit all meinem ungerechtfertigten Neid?

Ich kenne Scholze nicht. Keine Ahnung, wie sehr die Beschreibungen auf ihn zutreffen. Aber angesichts solcher Leistungen wird gefeiert und da hat er es sich auch verdammt noch mal verdient, dass er in jeder Hinsicht als grandios dargestellt wird – auch wenn er sehr bescheiden mit dem Lob umzugehen scheint.
Wenn man sich dann als Vollblut-Nicht-Mathematiker seine Antrittsvorlesung ansieht, stellt sich vielleicht Ernüchterung ein. Der Mann, der die Zahlen so einfach erklären können soll, spricht – und ich verstehe trotzdem nur Bahnhof! Das hat in den Zeitungsartikeln anders geklungen. Ich dachte, er könne komplizierte Sachverhalte so schön simpel darstellen? Also bleibt Mathe doch staubig und langweilig und irgendwas mit Buchstaben, wo eigentlich Zahlen sein sollten? Und der Typ, der da so viele „Ähms“ und Sprechpausen macht und zwischendurch mal murmelnd Erklärungen einwirft, die er dann doch nicht weiter verfolgt, weil sie zu weit führen würden – ist er am Ende doch einer dieser weltfremden Nerds, die für die Welt da draußen gar nicht gemacht sind? Mathematiker eben? Und überhaupt: Wenn ihm das doch sowieso alles so leicht fällt, wieso sollte man das dann so feiern? Er hat mit weniger Anstrengung mehr erreicht als der weniger begabte Schüler, der sich mit viel Herzblut eine schwache Drei-Komma-Irgendwas im Abi erkämpft hat. Tut so viel Getue um „Genies“ uns als Gesellschaft voller Leistungsdruck überhaupt gut? Das kann doch kein normaler Mensch erreichen. Das darf doch nicht der Vergleichsmaßstab sein!

Wir brauchen Genies

Sicherlich wird das, was Scholz da tut, für die meisten von uns unerreicht bleiben. Und ganz bestimmt fallen ihm komplexe Gleichungen bereits von Haus aus leichter als so manchem von uns der verlegte Einkaufszettel. Aber das schmälert seine Leistung in keinster Weise. Es wäre auch überheblich davon auszugehen, dass er es bei allem Talent völlig ohne Anstrengung so weit gebracht hat. Fraglich, ob er es dabei als Anstrengung empfunden hat, denn Scholz hat eine Eigenschaft, die eine Menge Mühe nach außen hin und teilweise auch aus eigener Perspektive in Leidenschaft und Spaß verwandelt: Begeisterung für das, was er tut.
Doch auch der Laie kennt das von Dingen, für die er sehr, sehr stark brennt: Es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein. Wer das Talent und die Leidenschaft zum Hausbau hat, der freut sich später über sein Werk und steckt liebend gern seine Freizeit in jedes Detail. Aber der schmerzende Rücken, die kaputten Knie und die langen Stunden im Rohbau unterm Scheinwerfer sind nicht weniger fordernd. Schmerzlich, wenn jemand das Errungene mit „Ach, du hast da einfach ein Händchen für – das ist dir doch leicht gefallen“ abtut.
Dass man als Laie bei Scholzes Vorlesung trotzdem nur Bahnhof versteht, ist nicht seine Schuld. Was er tut, ist kompliziert. So kompliziert, dass viele große Köpfe zuvor an den Fragen, die er löst, gescheitert sind. Man kann nicht erwarten, dass sich so etwas in drei Sätzen locker-flockig auf den Punkt bringen lässt. Manchmal aber erwarten wir von Wissenschaftlern, genau das zu leisten: Ein unfassbar komplexes Thema verständlich auf drei Sätze herunterzubrechen. Das ist aber nicht immer möglich. Manche Dinge bleiben selbst in ihrer einfachsten Form verdammt harte Nüsse.

Doch man erkennt auch, dass Scholze gut ist im großen Gesamtbild. Er stellt Verbindungen zwischen verschiedenen Themengebieten her und kommt nicht zuletzt auf diese Art auch auf die Lösung vieler Probleme. Das ist umso beeindruckender, weil es in der Forschung mit steigendem Wissen oft immer spezialisierter zugeht. Mitunter gibt es in einem sehr spezifischen Randbereich auf der einen Seite eines Feldes so viel zu wissen und zu verstehen, dass sich der Gelehrte in diesem Thema schon gar nicht mehr mit einem Kollegen auf der „anderen Seite“ desselben Feldes unterhalten kann. Das ist mit steigender Wissensmenge nur schwer zu umgehen. Und kann gefährlich werden, wenn man dadurch Zusammenhänge übersieht.
Wenn jemand wie Scholze verschiedene Bereiche zusammenführen kann, und sei es „nur“ innerhalb der Mathematik – dann ist das ein Segen, den wir dringend brauchen.

Wehret den Grundlagen

Eine weitere Sache freut mich an dem aktuellen Hype um Scholze: Überall wird freimütig zugegeben, dass das, was er so tut, mitunter (noch) gar keinen Anwendungsbereich hat. Ob und wie seine Arbeit später nützlich sein wird, steht in den Sternen. Und das ist völlig in Ordnung. Vielleicht wird es niemals einen Nutzen geben – aber wenn es einen gibt, dann werden wir verdammt dankbar für jede Abkürzung und jede Herleitung sein, die Scholze bereit stellt.
Diese bereitwillige Annahme vom Schwebezustand neuer Entdeckungen ist erfrischend in der aktuell häufigen Kritik an der Grundlagenforschung. Diese wird gerne mit dem bloßen Herumstochern aus Neugier gleichgesetzt. Ineffizient, Verschwendung von Geldern, bloße Befriedigung des Spieltriebs von Wissenschaftlern. Die sollen mit unseren Steuergeldern mal lieber die richtigen Probleme in der Welt anpacken!
Dass es aber ohne Entwicklung in den Grundlagen schlecht um den Fortschritt in der Anwendung bestellt ist, wird gerne außer Acht gelassen. Bei ungewissem Ausgang von Forschung mag es häufiger zu Irrläufern kommen – aber wir stoßen dabei vielleicht auch auf Dinge, nach denen wir vorher gar nicht gedacht hätten, dass man danach suchen kann. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass „Grundlagenforschung“ nicht gleichzusetzen ist mit „blindem Umhertasten“. Auch in der Grundlagenforschung heißt es nur selten: „Mal gucken, was passiert, wenn ich das hier mache …“
Dort braucht es wie in der angewandten Forschung auch eine (begründete) Arbeitshypothese. Niemand wird Forschungsgelder dafür bekommen, weil er ohne groß nachzudenken mal ausprobieren möchte, ob man nicht Frisbees per Hand zum Mond werfen kann. Experimente müssen geplant werden, sie müssen einen theoretischen Hintergrund haben und sie müssen so entworfen werden, dass die Ergebnisse objektiv und verlässlich sind. Das alles erfordert zwar auch Neugier, aber vor allem viel Bedacht.
Kann Scholze Grundlagenforschung wieder sexy machen? Bestimmt nicht im Alleingang, aber ich hoffe, er kann dazu beitragen.

So ein Mathematiker mit Rockstar-Image kommt uns gerade recht. Die Hoffnung ist ja immer, dass so jemand viele junge Generationen inspirieren wird, ebenfalls geniale Wege einzuschlagen. Vielleicht geschieht das auch vereinzelt, aber darin sehe ich gar nicht die große Chance, die Scholze nun bietet.
Die liegt für mich aktuell vor allem in seiner bloßen Präsenz. Schlagzeilen mit Mathematik, sein Land repräsentieren mit Daten, die teilweise nur um ihrer Schönheit Willen existieren – wenn das sich einschleift, dann sind Zahlen vielleicht demnächst eher Inhalt am Frühstückstisch anstatt ungriffige Konstrukte im gefürchteten Matheunterricht, den man später im Leben sowieso nicht mehr braucht.
Bei all der Wertschätzung von Anstrengung und Fähigkeiten, die man sich erarbeitet hat, können wir nun vielleicht offener werden für Menschen, die einfach schon von Haus aus smart sind. Das eine wertet das andere nicht ab. Und es schließt einander nicht aus. Im Gegenteil; das eine ist häufig Voraussetzung für das andere. Wieso nicht beides feiern?

Scholze ist jung und wir werden noch eine Weile etwas von ihm haben. Vielleicht kommt jetzt der große Sprung in die breitere Öffentlichkeit. Vielleicht kann er jüngere Generationen eher inspirieren als ein grauer Herr im Karohemd, der sehr spezifische Abhandlungen über sehr spezifische Dinge verfasst – und eine ganz andere Sprache spricht. Vielleicht werden populärwissenschaftliche Veröffentlichungen folgen – die Reichweite wäre spätestens jetzt definitiv da.
Vielleicht.
Denn in erster Linie sollte man dabei nicht vergessen, dass einem einzelnen Menschen, Genie oder nicht, nicht die Verantwortung für das gesellschaftliche Bild einer ganzen Disziplin oder der Wissenschaft als Ganzes zugeschrieben werden darf. Und vor allem muss man ihn fragen, ob er das überhaupt möchte. Wirbel um seine Person dürfte er zwar gewohnt sein, aber die Kreise werden jetzt noch einmal größer.
Doch ob gewollt oder nicht, Deutschland hat gerade einen ordentlichen Klopfer mit dem Taschenrechner auf den Kopf bekommen. Hoffen wir, dass es ein nachhaltiger war.


Quellen und erwähnte Links in Reihenfolge des Erscheinens, Stand 01.08.2018

[1] n-tv.de – Renommierter Mathematik-Preis: Peter Scholze gewinnt Fields-Medaille – 01.08.2018
[2] SPIEGEL ONLINE – Peter Scholze gewinnt Fields-Medaille: „So jemanden habe ich noch nie erlebt“ – 01.08.2018
[3] faz.net – Fields-Medaille: Antrittsvorlesung von Peter Scholze – 01.08.2018