Große Freude in den Neurowissenschaften: Es ist gelungen, Hirnsignale halbwegs verständlich in Sprache umzusetzen! Großes Entsetzen in den Kommentarspalten: Sind unsere Gedanken von nun an nicht mehr privat? Es lohnt sich, einen Blick auf die Details zu werfen.

TL;DR
– Mesgarani und Kollegen ist es gelungen, aus Hirnsignalen, die entstanden sind, als Patienten Sprache gehört haben, das Gehörte wieder zu rekonstruieren
– Es ist beeindruckend, dass hörbar gemacht werden kann, was Patienten gerade gehört haben. Es könnte der erste Schritt zur Kommunikation mit Menschen sein, die sich verbal nicht mehr äußern können.
– Gedankenlesen ist das aber nicht. Hier wird „nur“ Wahrnehmung sichtbar gemacht. Keine ganzen Sätze, sondern Ziffern von 0 bis 9. Komplexe Gedanken können nicht erfasst werden – schon gar nicht gegen den eigenen Willen.

Huch. Fackeln und Mistgabeln

Mit dem Frühstückskaffee in der Hand habe ich durch meinen Facebookfeed gescrollt und bin über diesen Spiegel-Wissen-Artikel gestolpert: Hirnforschung: Forscher übersetzen Gedanken in Sprache. Die Story hatte ich vor einigen Tagen schon mal gelesen und entsprechend hat sie mich nicht mehr vom Hocker gerissen. Obwohl es sich hier, das sollte man nicht klein reden, um einen riesigen Durchbruch handelt! Aber dazu später mehr. Zunächst einmal bin ich stirnrunzelnd an den Kommentaren hängen geblieben: Dort wurden die Neuigkeiten nämlich nicht als Möglichkeit gefeiert, demnächst mit Menschen kommunizieren zu können, die das verbal nicht mehr können. Stattdessen wurde Sorge oder heftige Empörung geäußert – immerhin sei die Zeit der freien Gedanken nun vorbei.

Jetzt überlegte ich doch, ob es sich um dieselbe Geschichte handelte, die ich bereits gelesen hatte. Meines Wissens war es nämlich zu keiner Zeit darum gegangen, Gedanken zu lesen. Hat es nun doch weitere Entwicklungen in diese Richtung gegeben?

Nicht nur die Überschrift lesen

Im Idealfall gibt die Überschrift eines Artikels den Sachverhalt auf den Punkt wieder. Man kann an dieser Stelle kritisieren, dass das dem Spiegel-Artikel nicht hundertprozentig gelingt. Aber um fair zu bleiben: Es ist nun mal nicht immer möglich, eine ganze Geschichte in einen Satz zu packen. Und der Artikel selbst räumt die Missverständnisse, die sich in den Kommentaren dazu zeigen, eigentlich sehr gut aus. Wirklich, Leute. Lest mehr als nur die Headline. Aber das sage ich den falschen. Schließlich lest ihr gerade diesen Satz hier.

Der Hauptpunkt an dieser Stelle ist: Es geht nicht um Gedanken. Nicht wirklich. Denn Mesgarani und Kollegen haben Patienten „nur“ zuhören lassen, wie Zahlen gesprochen wurden und dabei Hirnaktivität gemessen. Etwas genauer wird die Vorgehensweise in diesem – englischen – Artikel beschrieben. Aus den Hirnsignalen wurde dann abgeleitet, was die Patienten gehört hatten. Noch mal: Das ist verflucht beeindruckend! Aber was jemand hört ist nicht dasselbe wie was jemand denkt. Das ist in etwa so, als würde ich einen Menschen mit einer Nadel pieksen oder mit einer Feder kitzeln. Und dann nur anhand der Beobachtung, auf welche Weise er zuckt darauf rückschließen, ob es die Feder oder die Nadel war, mit der ich ihn taktiert habe. Der Spiegel-Artikel bringt es mit diesem Zitat von Niels Birbaumer auf den Punkt:

„Im Grunde haben die Forscher nur die Reaktion des Gehirns auf einen äußeren Reiz aufgezeichnet.“

Ebenfalls erwähnenswert ist, dass die Wörter, die die Patienten gehört hatten, nur in 75 % der Fälle von anderen Personen anhand der in Sprache übersetzten Hirnsignale erkannt wurden. Und schon wieder: Das ist verdammt beeindruckend. Aber hier ging es um Zahlen von 0 bis 9. Wenn die schon so undeutlich sind, dann gibt es keine Chance, komplexere Sätze wie „Ich hätte gerne ein Glas Rotwein.“ zu verstehen.

Immer nur willentlich

Was hier wiedergegeben wird, ist nicht etwa der „innere Monolog“ der Patienten – es ist nur das, was ihr Gehirn in diesem Moment gerade „hört“. Die Idee ist zwar, dass man ähnliche Signale generieren kann, wenn Menschen sich lediglich vorstellen, Sprache zu hören. Damit wäre dann eine willentliche Kommunikation via „Gedanken“ (wenn man es denn so nennen möchte) möglich. Der Fokus liegt hier aber auf willentlich. In keinster Weise ist der vorgestellte Ansatz in der Lage, private Gedanken abzugreifen, die jemand gar nicht teilen möchte. Ein bisschen wie mit verbaler Sprache eben: Ich kann zwar prinzipiell alles ausdrücken. Aber nur dann, wenn ich mich bewusst entscheide, den Mund aufzumachen. Schließlich sind Gedanken etwas sehr Abstraktes und viel mehr als innerer Monolog in Satzform. Das lässt sich nicht so einfach auslesen.

Ein kleines, aber wichtiges Detail gibt es da auch noch: Die Patienten in der Studie waren genau das: Patienten. Die zufällig sowieso Elektroden in ihrem Gehirn hatten. Die braucht es nämlich, um die Hirnsignale in dieser Form ableiten zu können. Und dann auch nur an exakt dem Ort, wo die Elektrode gerade steckt. Die meisten von uns haben aber keine Elektroden im Kopf stecken, über die ein „Zugriff“ möglich wäre. Schon gar nicht flächendeckend über das ganze Gehirn. Solange das so ist, ist euer Gehirn sicher wie Fort Knox.
Selbst wenn euer Kopf voller Elektroden wäre, übrigens. Denn wir sind weit davon entfernt, aus dem Orchester von feuernden Neuronen im Kopf ein sinnvolles Gesamtbild zusammenzustricken.

Man sollte trotzdem mal fragen

Aber was, wenn uns genau das eines Tages gelingen könnte? Gedanken zu erfassen, die jemand gar nicht teilen möchte? Die er vielleicht nicht mal so gemeint hat, die ihm dann aber trotzdem vorgehalten werden?
Es ist natürlich richtig, sich bei solchen neuen Technologien die moralischen Fragen zu stellen, die sich daraus ergeben könnten. Wie unwahrscheinlich es auch sein mag, dass wir jemals Gedanken lesen können. Wir brauchen es nicht schön reden: Gäbe es die Möglichkeit, diese Technik zu missbrauchen, gäbe es auch Leute, die genau das tun würden. Das muss dann mit größtmöglichem Aufwand verhindert werden. Panikmache, die außer Acht lässt, was möglich ist und was nicht – und somit auch gar nicht angemessen auf die tatsächlichen Gefahren reagieren kann – hilft aber nichts.

Update, 25.04.2019

In diesem Artikel geht die Sache nun weiter und es können teilweise ganze Sätze vollständig „übersetzt“ werden. Das ist ein riesen Schritt. Zwar konnten Leute, die die Schnipsel hörten, nur etwa 50 – 70 % der Wörter verstehen. Und es gibt weitere Einschränkungen: Die Hirnsignale wurden während OPs von Epilepsie-Patienten aufgenommen, nach wie vor muss für diese Technik also der Schädel geöffnet werden. Und: Aufgezeichnet wurde, während die Patienten sprachen, also tatsächlich ihre Sprachmuskulatur benutzt haben. Das geht, weil einzelne Bereiche im motorischen Kortex auch für einzelne Körperteile zuständig sind – wir wissen ziemlich genau, wo wir stimulieren müssen, damit der Finger zuckt.
Klein reden muss man die Sache trotzdem nicht, denn es ist eine Sache zu schließen, ob ein Finger zuckt – und eine ganz andere, Sprache zu rekonstruieren. Inwiefern sich das also auf gelähmte Patienten übertragen lässt, ggf. solche, die niemals überhaupt sprechen konnten und gar nicht wissen, wie man die entsprechende Muskulatur benutzt, ist dennoch vorerst fraglich.

Ganz wichtig dabei auch: Wieder ging es nicht darum, Gedanken zu lesen. Alles, was hier aufgezeichnet wird, ist motorische Aktivität, die bewusst gesteuert wird.

Trotzdem ist es beeindruckend, wie schnell es nun Fortschritte gibt – und wie nah wir damit an einer Lösung sind, die Menschen ihre Sprache wiedergeben kann!


Links und Quellen in erwähnter Reihenfolge, Stand 30.01.2019

[1] SPIEGEL Wissen – Hirnforschung: Forscher übersetzen Gedanken in Sprache. – 29.01.2019
[2] ScienceDaily – Engineers translate brain signals directly into speech: Advance marks critical step toward brain-computer interfaces that hold immense promise for those with limited or no ability to speak – 29.01.2019
[3] MIT Technology Review – Scientists have found a way to decode brain signals into speech – Antonio Regalado – 24.04.2019