Eine feurige Debatte um Tierversuche in irgendeiner Kommentarspalte irgendwo im Internet. Irgendwann wird er fallen, der Satz der Sätze: „Nehmt doch lieber Kinderschänder!“ Die Idee, Straftäter zu Versuchszwecken heranzuziehen und damit die Testung an Tieren zu ersetzen, ist äußerst populär.
Was wäre, wenn?

Moralische Doppelstandards

Wer der Meinung ist, dass es nicht in Ordnung ist, eine andere Spezies für Versuche zu missbrauchen, so nobel der Zweck auch sei, der darf das ruhig so sehen. Wenn aber jemand auf der einen Seite meint, dass es nicht okay ist, eine andere Art für Versuche zu nutzen, es auf der anderen Seite aber findet, dass das bei einer Subgruppe der eigenen Spezies (Straftäter) durchaus in Ordnung ist – bei dessen Argumentation komme ich nicht ganz mit. Tierversuche = nicht okay, dieselben Versuche an Straftätern = okay?
Die Aussage ist natürlich eng verknüpft mit dem Gedanken, dass Tiere die „besseren Menschen“ sind. In einer (wohlgemerkt wirklich konstruktiven) Unterhaltung sagte einer der Beteiligten: „Naja. Aber die Tiere haben im Gegensatz zu den Straftätern ja nichts getan, um so eine Behandlung zu verdienen …“

Jein. Es stimmt schon, dass wir in den Nachrichten wohl kaum von einem Tier lesen werden, das eine Seniorin durch den Enkel-Trick hereingelegt hat. Oder Abgaswerte gefälscht hat. Bloß wird es auch niemals dazu kommen, weil die meisten Tiere gar nicht dazu in der Lage sind, sich einem Menschen gegenüber moralisch falsch zu verhalten. Eine Ratte hat ordentlich Schwierigkeiten, einen Menschen zu töten. Und selbst wenn ein größeres Tier genau das schafft, ein Kampfhund zum Beispiel, verurteilen wir ihn nicht mit denselben moralischen Maßstäben wie einen Menschen. Warum auch? Jeder erkennt an, dass es vornehmlich die äußeren Umstände waren – die Abrichtung, die Behandlung, die Situation -, die den Hund zur tödlichen Attacke gebracht haben. Auch unter Tieren selbst sind Gewalt und Tötung durchaus gängig – und sichern entweder das Überleben oder schaffen Vorteile. Das ist für uns in Ordnung. Es gehört eben dazu und ist gerechtfertigt.
Situationale Umstände wie miese Lebensbedingungen und das falsche Umfeld lassen uns bei menschlichen Straftätern aber bestenfalls mit den Schultern zucken. Es fühlt sich auch einfach furchtbar unfair an, wenn ein Straftäter ein milderes Urteil erhält oder sogar „nur“ in psychiatrische Behandlung verwiesen wird, weil ihm eine psychische Krankheit diagnostiziert wird. Auch ich habe als Kind schon gelernt, dass das gar nicht in Ordnung ist und wir gefälligst jeden zur Rechenschaft ziehen sollten für das, was er tut. Glaubt mir, der vehemente Aufsatz, den ich in der Grundschule über meine „Ansichten“ über die Auswirkungen von „schwerer Kindheit“ auf die Verurteilung von Straftätern geschrieben habe, verdient eine Peinlichkeitsmedaille. In meinem eigenen Kopf sind diese Ideen nicht entstanden.
Mittlerweile hat sich meine Sicht dazu entschieden relativiert. Was sagen uns in diesem Kontext Experimente wie das von Milgram, das zeigte, dass die meisten von uns dazu in der Lage sind, anderen Leute potenziell tödliche Stromschläge zu verpassen, wenn wir dazu aufgefordert werden? Es ist nicht alles so schwarz-weiß, wie wir das gerne hätten.

Das bedeutet nicht, dass ich auf Straffreiheit für alle plädiere. Am Ende des Tages ist es eben genau das Moralverständnis, das uns von anderen Tieren unterscheidet. Wir wissen, dass unsere Handlungen nicht folgenlos sind und müssen, wenn wir untereinander irgendwie klar kommen wollen, dafür auch gerade stehen. Selbstverständlich brauchen wir ein Strafsystem, das Konsequenzen für diejenigen bereithält, die Gesetze brechen. Und selbstverständlich ergibt es herzlich wenig Sinn, dieselben Maßstäbe für Tiere anzuwenden. Aber bloß, weil wir ein Tier mit anderen moralischen Maßstäben messen (und messen sollten) bedeutet das nicht automatisch, dass Tiere gut oder besser sind. Wenn sie so etwas wie ein Moralverständnis haben, dann ist das anders als unseres.
Aber selbst wenn wir sagen könnten, dass entweder der Mensch oder das Tier die moralisch wertvolleren Geschöpfe sind – rechtfertigt das dann die Durchführung von Versuchen an der „schlechteren“ Gruppe?

Rache ist Blutwurst

Da Versuche oft erst mal als diabolisch und sadistisch wahrgenommen werden, liegt die Idee nahe, sie als „Strafe“ oder gar eine Art Rache einzusetzen. Der Kinderschänder hat dafür gesorgt, dass ein Kind leidet – nun wollen wir ihn auch leiden sehen. Irgendwas mit Elektroschocks oder die Entfernung von Gehirnteilen klingt da genau richtig.
Das würde allerdings den Zweck von Forschung vollkommen entfremden. Wenn es bei Versuchen plötzlich um Strafe und nicht mehr um Erkenntnisgewinn ginge, dann wären eben jene Erkenntnisse in Gefahr. Ein gutes Versuchsdesign lebt davon, das Leid während des Versuchs zu minimieren. Sadistisch gequälte Wesen werden keine verwertbaren Daten liefern, ähnlich wie Folter keine verwertbaren Aussagen produziert. Minimales Leid durch Forschung auf der anderen Seite aber maximales Leid durch Strafe auf der anderen kollidiert allerdings.
Wer (Tier-)Versuche als Folter, Strafe oder Rache versteht, der irrt sich gewaltig, was die Idee von Forschung betrifft.

Von der Reversibilität der Strafe mal ganz zu schweigen. Ich kann nicht auf der einen Seite gegen die Todesstrafe argumentieren, weil es schließlich auch Unschuldige von Zeit zu Zeit treffen würde – aber gleichzeitig fordern, dass man Straftätern unwiederbringliche Schäden zufügt.

Nicht zuletzt ist auch nicht jeder Versuch gleich schädlich. Wir kennen durchaus auch moralische Probleme in genau die entgegengesetzte Richtung: Es kann sein, dass keine Zuweisung in die Experimentalgruppe die moralisch verwerflichere Handlung wäre. Wenn wir zum Beispiel ein neues und vielversprechendes Krebsmedikament haben, dann wäre es nicht tragbar, es einer Hälfte von Patienten zu verabreichen und die andere zur Kontrolle völlig unbehandelt zu lassen. Vielleicht wäre es sogar schon fraglich, der zweiten Gruppe die bisher etablierte, aber vermutlich schlechtere Behandlung zukommen zu lassen. Zumindest würden wohl die meisten Patienten hoffen, in der Gruppe mit dem neuen Medikament zu landen. Das führt die Idee eines Experiments als Strafe vollends ad absurdum.

Student vs. Mörder

Gerne werden auch Stimmen laut, die die mangelnde Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen beklagen. Sicherlich funktioniert ein Mensch nicht genau wie eine Ratte. Je nachdem, was ich erforsche, muss ich wissen, welche Aspekte eines Tiermodells auf welche Aspekte des menschlichen Körpers anwendbar sind. Nicht jede Tierart ist geeignet, um Rückschlüsse auf jeden Vorgang im Menschen zu ziehen. Dennoch bedeutet das nicht, dass die Ergebnisse nicht übertragbar wären; genau genommen ist bereits der Begriff „übertragbar“ missverständlich.
Viele denken bei Tierversuchen an reine Verträglichkeitstests, z.B. was Nebenwirkungen eines Medikaments anbelangt. Der viel größere Teil der Versuche versucht aber eher, in der Grundlagenforschung funktionale Mechanismen im Körper zu entdecken, die man dann auch im Menschen nutzen kann. Die entdeckten Funktionsweisen sind dann durchaus anwendbar: Die tiefe Hirnstimulation beispielsweise unter anderem mithilfe von Tiermodellen entwickelt und ist eine beeindruckende Behandlung, die Parkinson-Patienten ein beinahe beschwerdenfreies Leben ermöglicht.

Die moralische Frage mal außer Acht gelassen wäre es natürlich extrem aufschlussreich, dieselben Experimente, die wir aktuell nur an Tieren durchführen, auch beim Menschen zu untersuchen. Die letzten Unsicherheiten, ob ein im Tier gefundener Mechanismus auch so beim Menschen vorhanden ist, wären bereinigt.
Allerdings darf man dabei nicht vergessen, dass auch Straftäter sich von der „normalen“ Bevölkerung in der Regel unterscheiden. Um zum Beispiel Fragebögen über Aggressivität zu validieren, werden gerne Straftäter als „Extremgruppe“ herangezogen. Wenn ein solcher Fragebogen unter Menschen, die wegen ihrer Aggressionsprobleme hinter Gittern sitzen, höhere Werte hervorbringt als beim Rest der Bevölkerung, dann misst er vermutlich das, was er messen soll. Sollten wir uns also tatsächlich dazu entschließen, (besonders schlimme) Straftäter für Versuche zu nutzen, dann hat das womöglich unerwünschte Nebeneffekte auf die Erkenntnisse, die wir daraus gewinnen.

Das entspricht ein wenig der aktuell heiß diskutierten Debatte um die Menschen, die heutzutage die hauptsächlichen Teilnehmer in Verhaltensexperimente sind: Psychologiestudenten. Denn die Psycho-Lernenden müssen im Bachelor fleißig Stunden als Versuchspersonen sammeln. Wer die Teilnahme am Versuch für das Bestehen des Studiums benötigt, ist entsprechend motiviert; wer das nicht braucht und nur ein paar läppische Euro als Entschädigung erhalten würde, der macht gar nicht erst mit. Es bleiben also nur die Psychos und die sind in der Regel Mitte 20, überdurchschnittlich gebildet und – meistens weiblich. Leute wie ich liefern den Hauptbestandteil aller Daten über Reaktionszeiten, Gedächtnis, Schlafentzug, Augenbewegungen, Hirnströme und Co. – und nicht mal ich selbst maße mir an, die breite Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren.
Ähnlich blöd wäre es, lediglich Straftäter für ausgerechnet nur die invasiven Forschungsprojekte zu verwenden. Im schlimmsten Fall gleichen wir dann die Ergebnisse von harmlosen Fragebögen unter Studenten mit den Ergebnissen aus Läsionsstudien in Schwerverbrechern ab.

Dann eben Freiwillige?

Vielleicht ist man mit etwas abgekühltem Gemüt zu dem Schluss gekommen, dass es moralisch doch recht fragwürdig ist, Straftäter zu Versuchen zwangszurekrutieren. Aber – wenn wir einfach Freiwillige nehmen würden? Diejenigen, die ständig Tierversuche fordern, würden sich doch sowieso jederzeit bereitwillig zur Verfügung stellen, wenn sie die Versuche doch so toll finden, oder nicht? Wenn sich jemand freiwillig melden würde, damit ich ihm Hirnteile entferne, kann ich doch wohl nichts dagegen sagen?

Überlegen wir auch hier einmal, was das für Konsequenzen hätte. Vernünftigerweise müssten wir Teilnehmer solch krasser Versuche entsprechend vergüten. Ich will bewusst nicht an konkrete Summen denken, aber sie wären vor allem bei irreversiblen Schäden wohl extrem hoch. Wer würde an solchen Versuchen teilnehmen?
Diejenigen, die genug Geld haben, um gut leben zu können, würden wohl dankend ablehnen. Sie haben alles, was sie brauchen. Warum die eigene Gesundheit riskieren? Diejenigen, die knapp betucht sind, überlegen dann, ob sie nicht das ein oder andere Stückchen Gehirn opfern wollen, um den Wagen abzubezahlen. Je größer die Verzweiflung, desto höher die Motivation. Die eigene Versehrtheit gegen ein gesichertes Abendessen für die Familie. Das wäre kein faires Angebot. Und keine echte Wahl.
Von „Freiwilligkeit“ kann nicht mehr die Rede sein, wenn wir in Ruhe darüber nachdenken, wer als „Freiwilliger“ an den invasiveren Versuchen teilnehmen würde. In Maßen sehen wir das schon in z.B. der erhöhten Bereitschaft von Studenten, ihr Einkommen während des Studiums ein wenig aufzustocken, indem sie an Medikamententests teilnehmen.

Eine persönliche Frage

Ob man Tierversuche akzeptiert oder nicht, bleibt eine persönliche Frage. Jedem steht es frei, für sich zu beantworten, ob der Erkenntnisgewinn durch Tierstudien gerechtfertigt ist oder eben nicht. Wer aber findet, dass derartige Versuche an Tieren moralisch verwerflich sind, der muss den Vorschlag von Menschenversuchen ebenfalls ablehnen.

Aus meiner Perspektive zeugt es auch nicht gerade von besonders viel Empathie oder Moralempfinden, wenn man auf der einen Seite Tierversuche aufs Tiefste verurteilt, auf der anderen Seite aber Straftätern und vor allem auch Wissenschaftlern, die an Tieren forschen, die übelsten Gewalttaten an den Hals wünscht. Morddrohungen und Folter-Tagträume gehören in nun wirklich gar keine Gesellschaft. Einen Wissenschaftler wird es niemals mit Genugtuung erfüllen, ein Tier im Rahmen eines Versuchs zu verletzen. Anders scheint das mit Kommentatoren in den sozialen Medien auszusehen, die eine teils abartige Zufriedenheit zu empfinden scheinen, wenn sie sich die Grausamkeiten ausmalen, die sie ihren Mitmenschen gerne antun würden.

Und wir tun es doch …

Mit einer Sache konnte ich einen Menschen, der mir mal Versuche an Straftätern (wenn auch halbherzig) vorgeschlagen hat, doch sehr positiv überraschen: Wenn wir können, dann führen wir durchaus dieselben Experimente an Menschen durch, die wir auch bei Tieren einsetzen. Im Rahmen einer Operation für die oben genannte tiefe Hirnstimulation muss man die Patienten während des Eingriffs wecken, um die Elektrode korrekt zu platzieren. Das Gehirn ist sowieso vollkommen schmerzfrei. Der Schädel selbst natürlich nicht, aber hier wurde eine lokale Betäubung gesetzt. Die Patienten sind während der OP in der Lage, mit geöffnetem Schädel sogar Geige zu spielen. Es gibt noch weitaus ausführlichere (und grafischere) Videos auf YouTube zu finden, wen so was interessiet.
Der Punkt ist: Der Schädel des Patienten ist sowieso geöffnet. Sein Gehirn wird sowieso stimuliert. Mit seinem Einverständnis kann er während der OP an Studien teilnehmen, sodass Daten aus direkter Ableitung/Stimulation beim Menschen gewonnen werden können – wie es auch in Tierstudien geschieht. Auch nach der Operation bleiben Patienten mit tiefer Hirnstimulation begehrte Forschungsteilnehmer. Denn die Stimulation kann auch nach der OP an und aus geschaltet werden. Das ermöglicht Vergleiche zwischen Patienten mit oder ohne Medikamenten und Patienten mit oder ohne tiefer Hirnstimulation. Und natürlich gesunden Kontrollprobanden.
Es gibt sie also, die freiwilligen Teilnehmer für invasive Versuche. Sofern die Rahmenbedingungen stimmen und keinen Raum für Missbrauch bieten.


Quellen und erwähnte Links in Reihenfolge des Erscheinens, Stand 14.05.2018, 18:48

[1] YouTube – Milgram experiment 1963 – PsychHub – 24.09.2014
[2] Max-Planck-Institut – Tiefe Hirnstimulation
[3] YouTube – Deep Brain Stimulation – Awake Surgery – Mayo Clinic – Mayo Clinic – 18.03.2010