Jeder von uns hat sein guilty pleasure. Irgendwie gesteht gefühlt jeder zweite intellektuelle Blog heimlich ein, das Dschungel-Camp zu gucken. Das reizt mich persönlich so gar nicht, aber dafür bin ich überzeugter Eurovision-Song-Contest-Anhänger. Jedes Jahr wird ein Rudelgucken mit Freunden organisiert und in der Regel wird auch auf die Reihenfolge der Teilnehmer gewettet. Das Beste daran: Auch aus Daten-Nerd-Perspektive lässt sich wunderbar am ESC herumtüfteln. Ein kleine Einstimmung auf den Contest heute Abend.
Das ist doch alles bloß Trash!
Zwei Dinge hört man häufig, wenn man zugibt, mit positiver Grundeinstellung den ESC zu schauen. Nummer 1 ist, dass das sowieso kein ernst zu nehmender Wettbewerb ist und es nur um die schrillste Performance geht. Unterlegt mit dem Beispiel der Band Lordi in Monsterkostümen, die sich einst sogar den Sieg sichern konnten. Doch das ist vergleichsweise down to earth verglichen mit Dancing Lasha Tumbai von Verka Serduchka aus der Ukraine („Ein, zwei, drei, tanzen!“), den Party-Großmütterchen aus Russland oder – auch wir müssen uns da schuldig sprechen – Wadde hadde dudde da von Stefan Raab.
Nun versteht sich der Deutsche oft als derjenige, der das System durchschaut hat und ja eigentlich mit vernünftigen Beiträgen teilnehmen würde – wenn die anderen nicht immer solchen Quark abliefern würden und es quasi notwendig sei, mit gequirltem Bullshit beim ESC anzutreten, wenn man eine Schnitte haben will. Immerhin soll der Beitrag Raabs ja Satire gewesen sein um zu zeigen, was für ein Kindergarten da eigentlich abläuft. Auch die Gastgeber im Jahre 2016, Måns Zelmerlöw und Petra Mede, nahmen in ihrer Parodie des „perfekten ESC-Songs“ die Vorhersehbarkeit und wiederkehrenden Elemente der jährlichen Beiträge auf die Schippe.
Ein gewisser Trash-Faktor lässt sich dem Contest nicht absprechen. Es ist auch kein Geheimnis, dass gewisse Dinge in der Musik eben funktionieren und deshalb (ein bisschen zu häufig) wiederkehren. Aber in meinen Augen hat Deutschland den Sprung von „Das ist doch eh alles Müll“ zu „Ups, es wird Zeit für richtige Musik“ verpasst. Wir haben konstant das Gefühl, einen Song ins Rennen schicken zu müssen, der exklusiv für den ESC-Markt funktioniert – der in unseren Augen vom „normalen“ Weltmusikmarkt abweicht. Dabei übersehen wir, dass viele andere Länder längst routinemäßig durchaus radiokonformen Pop liefern, der auch über den ESC hinaus erfolgreich ist. Bei Loreens Euophoria vergisst man beinahe, dass es in den Rahmen des Contests gehört und auch Only Teardrops von Emmelie de Forest oder Fairytale von Alexander Rybak klingen zwar schon noch ein wenig „ESCesk“, aber gehen vollkommen als ernstzunehmende Stücke Musik durch. City Lights von Blanche hat es auch längst in die Radios geschafft, ohne dass man noch von ihrem ESC-Auftritt wüsste und einer meiner persönlichen Favoriten bleibt Silent Storm von Carl Espen, ein berührender Track, hinter dem auch viel Können steckt. Oder Calm After The Storm, der Beitrag von den Niederlanden in 2014 (scheint, als könnte man mich mit Schlagwort „Sturm“ begeistern). Spätestens der Siegertitel von Portugal im letzten Jahr erreichte dann ein Level an musikalischer Intellektualität, dass sogar mir zu viel ist. Man bezeichnet diesen Song auch als Wende in der ESC-Geschichte, weil endlich die „echte Musik“ (was auch immer das sein mag) den Sieg kassieren konnte. Dabei würde ich „richtige Musik“ gar nicht auf ein Genre festnageln; ein Beitrag, der Mainstream ist, kann trotzdem handwerklich gut und mit Herzblut gemacht sein.
Das ist doch alles Punkteschieberei!
Aber bringt es überhaupt etwas, sich Gedanken über das richtige Genre oder das Handwerk zu machen? Denn der zweite Vorwurf ist dieser: Dass der Wettbewerb lediglich politischer Natur sei und der Punktestand am Ende eher wiederspiegele, wer gerade mit wem Beef habe.
Das Schöne ist aber: Man kann das untersuchen. Das haben zum Beispiel Blangiardo und Baio getan. In ihrer Einleitung fassen sie die bisherigen Ergebnisse zusammen – denn sie sind nicht die Ersten, die untersucht haben, ob es (systematische) Verzerrungen im Wahlverhalten gibt. Tatsächlich scheint es so, dass sich in verschiedenen Berechnungen ziemlich konstant Auffälligkeiten in der Punkteverteilung ergeben. Aber bedeutet das, dass der ESC ein abgekartetes Spiel ist? Nicht unbedingt.
Denn erstens finden Blangiardo und Baio irgendwie beruhigende Ergebnisse: Es gibt Verzerrungen, ja. Aber wenn, dann in die Richtung von „Bevorzugung“ – Diskriminierung scheint nicht vorzukommen.
Doch ist nicht genau das das Problem? Gegenseitiges Zuschustern von Punkten unter Freunden? Das mag man so sehen. Ich halte es eher für eine logische, nahezu unvermeidliche Konsequenz. Vor allem, wenn man die weiteren Ergebnisse des Papers betrachtet: Die Bevorzugungen traten vor allem dann auf, wenn kulturelle Nähe bestand, also zum Beispiel eine gemeinsame Sprache oder Vergangenheit. Etwas weniger Einfluss hatten geografische Nähe und Migration. Das legt in etwa das nahe, was viele Leute auch intuitiv schlussfolgern: Erstens gefällt uns Musik besser, die näher an unseren eigenen Hörgewohnheiten liegt. Zum Beispiel kommt uns europäischen Ohren orientalische Musik mit ihren Zwischentönen immer irgendwie merkwürdig und krumm vor. Habt ihr beim ESC vielleicht auch das Gefühl, dass die osteuropäischen Beiträge irgendwie alle gleich klingen? Oder zumindest sehr kitschig und irgendwie platt? Naheliegend, dass uns ein Beitrag aus z.B. Österreich besser gefällt als einer aus der Ukraine. Es liegt einfach dichter an unseren Hörgewohnheiten.
Auch naheliegend, dass es aus Deutschland mehr Stimmen für die Türkei gibt, wenn es viele türkische Migranten bei uns gibt. Die legen ja mit ihrem Umzug nicht plötzlich die Tatsache ab, dass ihnen der türkische Musikstil gut gefällt. Würdet ihr in die Türkei ziehen, würde euch mit der Zeit zwar die dortige Musik besser gefallen – einfach nur, weil ihr sie zwangsläufig häufiger hört. Das nennt man mere exposure effect. Allerdings würdet ihr die Präferenz für die Musik, die ihr aus Deutschland gewohnt seid, wohl nicht so schnell vollkommen ablegen, wenn überhaupt.
Das kann man in meinen Augen wohl kaum als strategisches Wählen bezeichnen. Es ist einfach ein normaler Prozess.
Die Qual der Wahl
Kommen wir zu einer Debatte, die weitaus größer ist als der ESC: Sind Wahlen nicht generell unfair? Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Wahltheorie ist diese: Je nach Auswertungssystem kann bei ein und derselben Stimmabgabe ein völlig anderer Gewinner gekürt werden. Dabei kann man gar nicht mal sagen, dass etwas falsch gemacht oder manipuliert wurde. Die Kreuzchen bleiben immer dieselben, aber sollte man nach der absoluten oder relativen Mehrheit fragen? Ein Approval-Voting durchführen oder komplexere Wahlsysteme wie das Condorcet-Voting nutzen? Ein kurzer (oder längerer) Ausflug in die verschiedenen Möglichkeiten:
Mehrheitswahl
Kennen wir alle, ist denkbar einfach: Derjenige mit den meisten Stimmen gewinnt. Aber auch hier kann es mit einer kleinen Abwandlung bereits zu unterschiedlichen Gewinnern kommen. Sagen wir Kandidat A hat 3 Stimmen, B 2 Stimmen und C und D jeweils eine. Nach einer Mehrheitswahl gewinnt A mit 3 Stimmen. Wenn wir aber eine Stichwahl zwischen den ersten beiden Kandidaten durchführen, also A und B gegeneinander antreten lassen, kann das anders aussehen. Nämlich dann, wenn diejenigen, die C und D gewählt haben, im zweiten Durchgang ihre Stimme Kandidat B geben. Dann stehen wir bei 4 zu 3 Stimmen für B – der bei der simplen Variante der Mehrheitswahl lediglich zweiter geworden wäre.Approval-Voting
Hier gibt jeder Wähler an, mit welchem Kandidaten er potenziell als Sieger klar kommen würde. Denkbar ist zum Beispiel eine Situation, in der ich mich mit Freunden darauf einigen muss, in welches Restaurant wir gehen wollen. Ich würde gerne Sushi essen gehen und kreuze das an, aber ich setze ebenfalls ein Kreuz bei Pizza und Indisch, weil das ebenfalls für mich in Ordnung wäre. Auf Burger habe ich keine Lust, also kreuze ich das nicht an. Eine Freundin von mir setzt ihr Kreuz vielleicht bei Sushi und Pizza, aber nicht bei den anderen beiden Optionen.
Die Alternative, mit der sich die meisten Wähler arrangieren können, siegt am Ende.
Auch hier kann es wieder zu einem anderen Sieger kommen als bei eine Mehrheitswahl. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass ich mit meiner Wahl mehr Informationen übermitteln kann: Mit welchem Ausgang ich zufrieden wäre und mit welchem nicht. Der Nachteil ist, dass ich meinen Favoriten nicht gewichten kann.Instant Runoff-Voting
Kennen wir aus Deutschland sucht den Superstar und ähnlichen Casting-Formaten: In jeder Runde fliegt derjenige mit den wenigsten Stimmen. Es zeigen sich ähnliche Mechanismen wie oben bei der Mehrheitswahl mit Stichwahl beschrieben: Die Stimmen der Wähler, deren bevorzugte Kandidaten ausgeschieden sind, verteilen sich auf die verbliebenen Alternativen, wodurch sich das Muster mit jedem Durchgang anpassen kann.Borda-Wahl
Diese Methode ist etwas aufwändiger, aber grundsätzlich sollte auch diese Art der Wahl euch schon mal unter gekommen sein. Jeder Wähler bringt die Alternativen in die Reihenfolge, die seiner Präferenz entspricht. Die am wenigsten bevorzugte Option erhält null Punkte. Die am zweit wenigsten gewünschte bekommt einen Punkt. Die darauf folgende zwei und so weiter – der Favorit erhält somit die Höchstpunktzahl, die der Anzahl der Teilnehmer minus 1 entspricht (da der letzte Platz ja 0 Punkte erhält). Bei vier Alternativen bedeutet das: Platz 1 – 3 Punkte; Platz 2 – 2 Punkte; Platz 3 – 1 Punkt und Platz 4 – 0 Punkte.Condorcet-Verfahren
Jetzt wird es ein bisschen komplexer. Auch beim Condorcet-Verfahren werden alle Alternativen von jedem Wähler in eine Reihenfolge gebracht. Bloß die Auswertung ist ein wenig aufwändiger. Jede Alternative wird mit jeder anderen Option paarweise verglichen. Das bedeutet: Ich sehe mir an, wie viele Wähler Alternative A vor Alternative B platziert haben, wie viele Wähler Alternative A vor Alternative C platziert haben, wie viele Wähler Alternative A vor Alternative D platziert haben … und dasselbe Spiel für jeden Kandidaten im Rennen.
Das ist natürlich einiges an Arbeit und in der Auswertung per Hand extrem fehleranfällig. Wirklich praktikabel wurde diese Technik also erst durch moderne Computer-Auswertung.
Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Gewinner ist die Alternative, die allen anderen vorgezogen wird. Das klingt erst mal logisch, allerdings gibt es einen solchen Condorcet-Gewinner nicht immer. Es können sich sogenannte zirkuläre Präferenzen bilden, sodass die resultierende Rangfolge keine Hierarchie ist – sondern ein Kreis.Beispiel:
50 Wähler wählen so: A, B, C
40 Wähler wählen so: B, C, A
30 Wähler wählen so: C, A, B90/120 Wählern Wählen B vor C. 70/120 Wählern wählen C vor A. Also: B vor C vor A?
Aber: 80/120 wählen wiederum A vor B – bevorzugen den nach der Logik oben letzten Platz sogar vor dem ersten Platz. Wer soll jetzt gewinnen?Range Voting
Hier gibt jeder Wähler eine Stimme für jeden Kandidaten ab. Und zwar im Sinne eines Punktwerts. Ich kann zum Beispiel für jede einzelne Option entscheiden, ob ich 0 Punkte, 10 Punkte oder irgendwas dazwischen vergebe. Damit kann ich auch Abstufungen ausdrücken: Mein absoluter Favorit bekommt von mir glatte 10 Punkte. Mein persönlicher zweiter Platz ist in meiner Wahrnehmung aber weit abgeschlagen und bekommt nur 4 Punkte. Meinen Platz 3 bedenke ich mit 3 Punkten, weil ich kaum einen Unterschied zum vorherigen Kandidaten sehe. Und der letzte Kandidat geht für mich gar nicht und bekommt 0 Punkte.
Manipulation!!!!1!!11
Die verschiedenen Wahlsysteme bringen unterschiedliche Möglichkeiten des „strategischen Wählens“ mit sich. Wenn ich bei der Mehrheitswahl weiß, dass es ein Kopf an Kopf-Rennen zwischen A und B ist, ich aber Alternative C bevorzuge – dann kann ich mir denken, dass C nicht gewinnen wird, wenn ich ihm meine Stimme gebe. Es wäre mir aber immerhin lieber, wenn B gewinnt und zumindest nicht A. Obwohl ich also eigentlich am allerliebsten C hätte, wähle ich nicht meiner wahren Präferenz entsprechend, sondern setze auf B – um zumindest den Sieg von A zu verhindern.
Bei der Mehrheitswahl mit Stichwahl und dem Instant-Runoff-Voting sieht es ähnlich aus: Ich finde A am besten und B am zweitbesten. Aber ich weiß, dass B der schärfste Konkurrent zu A ist und niemand C besonders mag. Wenn ich gemäß meiner Präferenz A wähle, dann bekommt A zwar die meisten Stimmen und B vermutlich die zweitmeisten. Aber dann fliegt C raus und zufällig weiß ich, dass die C-Wähler dann im Finale zum Lager B wechseln würde. Dann hat mein Favorit A keine Chance mehr. Ich wähle in der ersten Runde also C. Dann fliegt B raus und im Finale stehen dann A und C. A hat viel leichtere Schnitte gegen C als den scharfen Konkurrenten B.
Nach ganz ähnlicher Logik kann man sich versehentlich in einer politischen Kampagne ins Bein schießen: Sagen wir, es gibt einen besonders rechten Kandidaten und zwei gemäßigtere. 60 % der Leute bevorzugen einen gemäßigten Kandidaten, 40 % wollen den Rechten. Letztere wählen natürlich ihren Kandidaten. Wenn die Gemäßigten ihre Stimmen aber unter ihren zwei Alternativen gleichmäßig aufteilen, landen wir bei 40 % für den Rechten und je 30 % für die beiden gemäßigten Kandidaten. Der Rechte gewinnt, obwohl die Mehrheit eigentlich für einen gemäßigten Kurs gewesen wären.
Borda und Condorcet bieten ähnliche Mechanismen: Ich kann meinen persönlichen Zweitplatzierten einfach ans Ende meiner Rangliste setzen, weil ich ihn als zu große Bedrohung für meinen Favoriten sehe.
Selbst beim Range Voting mag ich immer noch unehrlich wählen: Ich finde meinen Favoriten eigentlich nur 9 von 10 Punkten toll, aber ich vermute, dass andere ihm eine niedrigere Punktzahl geben werden. Daher vergebe ich zur Sicherheit mal eine 10. Ich kann auch versuchen, der Alternative, die ich am wenigsten mag, noch weniger Punkte zu geben, als ich eigentlich vor hatte, um sie weiter unten zu halten. Aber zumindest ergibt es wenig Sinn, eine unehrliche Reihenfolge der Kandidaten anzugeben. Ich kann meinen Favoriten immer mit der maximalen Punktzahl bedenken, ob er nun weit oben oder weit unten in der Rangliste steht. Ich habe dadurch keine Punkte für einen anderen Kandidaten „verbraucht“ und kann jeden unabhängig bewerten, wenn ich das möchte.
Außerdem, so kann man argumentieren, werden sich „Extremwähler“ immer in etwa die Waage halten, gut denkbar anhand des Beispiels einer Filmbewertungsplattform. Wenn ich finde, dass ein bestimmter Film vollkommen überbewertet ist, dann gebe ich ihm 0 Punkte, damit er von der viel zu hohen 8 auf eine solide 6 fällt. Die Fans des Films werden das natürlich sehen und die schnöden 6 Punkte für viel zu wenig halten – und direkt eine 10 reinzimmern, um dem Film wieder zu der 8 zu verhelfen, die er in ihren Augen verdient hat. Eigentlich finden beide Seiten, dass der Film irgendwie um die 7 Punkte herum schwanken sollte – und so pendelt sich das Ganze ein.
Viele kluge Köpfe haben sich den Kopf über die Tatsache zerbrochen, dass Szenarien denkbar sind, in denen jedes Wahlsystem bei exakt derselben Stimmverteilung zu einem anderen Wahlergebnis führen kann. Und dass jedes Wahlsystem auch einen gewissen Spielraum für unehrliche Wähler bietet, das heißt Wähler, die entgegen ihrer eigentlichen Präferenzen stimmen, weil sie glauben, das Ergebnis dann erst in die gewünschte Richtung bewegen zu können. Und dann muss man ja noch die Komplexität des Wahlvorgangs bedenken. Wenn der Wähler zig Kreuze machen muss oder gar erst ein undurchsichtiges System nachvollziehen muss, dann schreckt das ab. Welches Wahlsystem ist denn nun das Beste?
Mathe, bitch!
Smith hat 2000 sehr ausführliche Computersimulationen über verschiedene Wahlsysteme laufen lassen. Das bietet eine ganz großartige Möglichkeit: Im Gegensatz zu echten Wahlergebnissen wissen wir bei jedem der computersimulierten Wähler, was er „wirklich will“. Für jeden Computer-Wähler gibt es also ein bestmögliches Wahlergebnis. Das muss nicht notwendigerweise mit den Präferenzen übereinstimmen, die er auf seinem Zettel ankreuzt – wir haben oben ein paar Dinge über „taktisches Wählen“ erfahren. Wir können also jedem Wähler neben einem „bestmöglichen Ergebnis“ auch eine Wahlstrategie zuweisen. Die kann entweder ehrlich mit seinen eigenen Überzeugungen übereinstimmen oder in einem gewissen Ausmaß „manipulierend“ sein. Und: Wir müssen nicht jahrelang auf die nächste Wahl warten, sondern können tausende von Wahldurchgängen unter allen denkbaren Bedingungen hier und jetzt laufen lassen.
Genau das hat Smith getan und das erste für mich überraschende, wenn auch beruhigende Ergebnis lautet: Strategisches Wählen führt innerhalb eines Wahlsystems immer zu größerer Unzufriedenheit als ehrliches Wählen. Was auch immer man sich vor der Wahl also so ausdenkt, geht in der Regel nach hinten los. Wer also der Gesellschaft und vor allem sich selbst einen Gefallen tun will, der gibt auf dem Stimmzettel auch das an, was er wirklich denkt. Hinzu kommt ja auch, dass ich für erfolgreiches strategisches Wählen eine ziemlich genaue Idee haben muss, was bei der Wahl geschehen wird. Einem vermeintlichen Kandidaten seine Stimme zu geben, der sowieso keine Chance hat, zu gewinnen, stellt sich als fataler Fehler heraus, wenn derjenige eigentlich doch ein heißer Anwärter war und aufgrund meiner Stimme nun den Sieg errungen hat, obwohl das gar nicht mein Ziel war.
Die nächste Erkenntnis des Smith-Papers: Die Mehrheitswahl, so verbreitet sie auch ist, ist eines der schlechtesten Wahlsysteme. Will hier meinen : Erzeugt die meiste Unzufriedenheit. Es ist allerdings immer noch deutlich besser als ein zufälliger Wahlsieger – so etwas wie eine Diktatur sozusagen, wo der Wähler selbst gar kein Mitspracherecht hat. Aber: Das Range Voting ist in etwa noch mal so viel besser wie die Mehrheitswahl, wie der Abstand der Mehrheitswahl zum Zufallsgewinner. Die anderen Wahlsysteme landen irgendwo dazwischen.
Range Voting ist auch verhältnismäßig wenig anfällig für strategisches Voting. Jedenfalls ist der Unterschied zwischen strategischem und ehrlichem Voting bei Condorcet, Borda und Instant-Runoff viel höher. Bei Approval Voting und der Mehrheitswahl hat unehrliche Abstimmung allerdings noch weniger Auswirkungen (wobei man hier noch zwischen reiner Mehrheitswahl und Mehrheitswahl mit Stichwahl unterscheiden muss, siehe der Abschnitt zur Mehrheitswahl).
Aber: Selbst unehrliches Range Voting ist immer noch viel besser als maximal ehrliche Mehrheitswahl. Das liegt daran, dass folgendes Szenario denkbar ist: 51 von 100 Kandidaten wählen Kandidaten A als Favoriten. B wäre für sie fast genauso gut gewesen. Entsprechend wählen 49 Kandidaten B – der geht für sie über alles. Mit A können sie absolut gar nichts anfangen und wären völlig verzweifelt, würde er die Wahl gewinnen. Genau das tut er aber – und es ist leicht sich vorzustellen, dass ein Sieg von Kandidat B insgesamt mehr Zufriedenheit verursacht hätte. Nach Regeln der Mehrheitswahl bleibt aber Kandidat A der Sieger.
Abstimmen beim ESC – ist das überhaupt sinnvoll?
Modifiziert ist es die Borda-Wahl, die beim ESC angewendet wird. Auch hier bringt jedes Land seine Favoriten in eine Reihenfolge, wobei jeder Rang mit einem Punktwert verknüpft ist. Die Abstände zwischen diesen Punkten sind vorgegeben – ich kann nicht einem Land 12 Punkte geben und dem Nächstplatzierten nur 5, weil ich finde, dass der Abstand zwischen den beiden so groß war.
Natürlich ist es beim ESC allein schon dadurch komplexer, dass die Rangfolge innerhalb eines Landes wiederum auf Basis anderer Systeme bestimmt wird. Es gibt eine Jury-Wertung, bei der ebenfalls die Länder in eine Reihenfolge und entsprechend mit einer Wertung bedacht werden, und das Telefon-Voting – und wie diese beiden Teile in die Wertung einfließen, ist allerdings denkbar schwammig, siehe den Auszug zu den Regeln des ESC im FAQ des Ersten:
Die Abstimmung erfolgt per Juryvoting und Televoting. Beide Teile machen in der Regel 50 Prozent des Ergebnisses aus. Seit 2017 behält sich die EBU vor, auch andere prozentuale Gewichtungen anzuwenden.
Grundsätzlich hat jeder „Wähler“ so viele Stimmen, wie er bereit ist, kostenpflichtig anzurufen. Dabei ist es also nicht nur möglich, jedem Land (außer dem eigenen) mehrere Stimmen zukommen zu lassen, sondern auch für mehrere Länder anzurufen. Oder eine Kombination aus beidem.
Das entspricht fast schon wieder einem Range Voting: Ich kann für jeden Kandidaten eine gewisse „Intensität“ in Form einer Anzahl von Anrufen ausdrücken. Aber: Skala nach oben hin offen.
Man könnte sich an dieser Stelle also fragen, ob es fair ist, dass Leute, die das nötige Kleingeld übrig haben, um es dafür zu verschleudern, dass ihre Meinung in einen Musikwettbewerb eingeht, größere Stimmgewalt haben als weniger betuchte Menschen. Es ist aber die Frage, ob wir hier päpstlicher sein wollen als der Papst und eine hochdemokratische Wahl veranstalten wollen – oder ob wir mal Fünf gerade sein lassen und uns damit abfinden, dass die Leute, die Bock haben, ihr Geld für den ESC auszugeben eben mehr Mitspracherecht haben dürfen.
Denn mathematisch betrachtet ergibt es sowieso Sinn für den Einzelnen, wählen zu gehen. Die Chancen, dass die eigene Stimme überhaupt einen Unterschied in der Entscheidung macht, ist verschwindend gering. Aufgedröselt in der Einleitung des bereits erwähnten Smith Papers: Bei einer Mehrheitswahl mit zwei Kandidaten und einer Millionen Wählern (die alle über einen Münzwurf simuliert werden) liegt die Wahrscheinlichkeit, dass meine Stimme den Unterschied macht, bei 1/1671. Wenn die Münze jedoch nicht mit einer 50/50 Wahrscheinlichkeit Kopf oder Zahl zeigt, sondern mit 49/51, sieht das bereits anders aus. Das entspricht eher der realen Situation, wo sicher nicht jeder Kandidat dieselbe Chance hat. Hier liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet meine Stimme einen Unterschied macht, bei 10^-90. Der Taschenrechner gibt das nur mit 1e-90 aus. Ausgeschrieben ist das erst eine 0. Dann ein Komma. Und dann 89 Nullen und dann erst eine 1. Das kann man sich mit einem herkömmlichen Gehirn nicht mal vorstellen.
Trotzdem gehen immer noch sehr viele Menschen wählen – niedrige Wahlbeteiligung hin oder her, aus wahrscheinlichkeitstheoretischer Sicht sollten wir alle zu Hause bleiben. Das für mich überzeugendste Argument dagegen ist das Aber-was-wenn-das-jeder-so-sieht-Argument. Oder genauer gesagt: Das Aber-was-ist-wenn-das-die-falschen-Leute-nicht-so-sehen-Argument. Beispiel: Alle gemäßigten Wähler gehen nicht zur Wahl, denn: Bringt ja eh nix. Die Nazis haben das aber nicht mitbekommen, stimmen fleißig ab und mit einem Mal ist das Land rechts. Der Einzelne mag keinen Unterschied machen – viele Einzelne allerdings schon.
Beim ESC ist das Wahlsystem so verschachtelt, dass strategisches Wählen kaum Sinn ergeben dürfte. Selbst, wenn die Quoten für einen möglichen Sieg sehr öffentlich bei den Buchmachern gehandelt werden. Da immer noch auch die Jury eine Rolle spielt, ist es mit Vorsicht zu genießen, unehrliche Punktzahlen zu vergeben – es wird mit aller Wahrscheinlichkeit nach hinten losgehen. Allein schon deswegen bin ich wenig beunruhigt über Punkteschieberei beim Songcontest oder anderen Vorwürfe der Manipulation.
Aber die Reihenfolge … ?
Schockschwerenot. Die Auftrittsreihenfolge der Interpreten ist nicht mehr zufällig. Die Nasen, die im Hintergrund die Show gestalten, wollten die Dramaturgie der Sendung nicht mehr dem Zufall überlassen, Fairness hin oder her. Ausgelost wird lediglich, ob in der ersten oder zweiten Hälfte der Show aufgetreten wird. Aber beeinflusst der Startplatz nicht maßgeblich das Ergebnis?
Tatsächlich sind Reihenfolgeneffekte in der Psychologie bekannt. Das fängt ganz simpel bei Erinnerungseffekten an: Die ersten und letzten Wörter einer Liste behalten wir besonders gut.
Hierbei handelt es sich aber um gleichförmige Inhalte, die über einen Zeitraum verteilt gelernt und erinnert werden. Denkbar, dass es bei sehr unterschiedlichen Performances im ESC anders aussieht. Kann der Effekt der Reihenfolge stärker wirken als der Unterschied zwischen den Performances an sich? Mit anderen Worten: Kann ein richtig guter Kandidat allein deswegen weiter hinten landen als ein schlechterer Kontrahent, weil er die ungünstigere Auftrittsposition hatte?
Dieser Artikel auf ESC Insight legt nahe: Nein. Theoretisch ist es zwar denkbar, dass die Reihenfolge der ausschlaggebende Punkt bei der Platzierung ist. Aber nur, wenn die beiden Interpreten sowieso Kopf an Kopf liegen. Denn der Einfluss der Reihenfolge auf den Finalen Punktestand beträgt nach den Berechnungen der Autoren nur etwa 5 %.
Aus Sicht eines fairen Wettbewerbs ist das natürlich trotzdem verwerflich und immer noch ein verzerrender Faktor. Ich glaube auch, dass die Programm-Gestalter ihren Weitblick da womöglich überschätzen und ebenfalls der Reihenfolge zu viel Bedeutung zumessen. Wenn die Positionierung eines Auftritts so wenig Einfluss auf die Platzierung am Ende hat, wieso sollte der Einfluss auf die Wirkung beim Zuschauer im Gesamtbild dann so viel größer sein?
Am Ende wird es die Kuh nicht fett machen. Gerade deswegen wäre eine zufällige Auftrittsreihenfolge die fairere Wahl, allein schon, weil es Diskussionen um Manipulation und bewusste Beeinflussung eindämmen würde.
Fazit
Was bleibt am Ende? Wenn ich die Vorwürfe um die ESC-Abstimmung gesammelt betrachte, wird alles wohl weniger heiß gegessen, als es gekocht wird. Am Ende sind auch so viele Zufallsfaktoren beteiligt, dass eine Vorhersage des Ausgangs beinahe unmöglich wird.
Vor allem ist meine persönliche Meinung, dass wir den Wettbewerb zwar deutlich weniger ernst, aber mit viel mehr Würde betrachten sollten. Immerhin muss man auch sagen: Irgendjemand muss Letzter werden. Wir gehen stets mit der Anforderung in den Wettbewerb, vorne platziert zu werden. Aber das ist selbst wenn es ein reines Glücksspiel wäre – oder gerade dann – völlig utopisch. Wie wäre es einfach mal hiermit: Kein Expertenkomittee mit der Analyse von potenziellem Songmaterial und dem ultimativen Erfolgsrezept beauftragen, sondern einfach den Song auswählen lassen, den man sich auch so in seiner Freizeit gerne anhören würde. Von Leuten, die es interessiert. Komponisten oder Laien – völlig wumpe.
Noch ein weiterer Fetzen persönliche Meinung am Ende: Michael Schulte ist ein guter Musiker und ein sympathischer Kerl. Ich finde zwar, dass er musikalisch schon stärkere Songs am Start hatte als den, den er heute Abend präsentieren wird (gebt euch lieber The Maze von ihm). Trotzdem gefällt er mir von den Kandidaten, die wir in der Vergangenheit so hatten, mit am besten. Jedenfalls drücke ich ihm alle Daumen.
Quellen und erwähnte Links in Reihenfolge des Erscheinens, Stand 12.05.2018, 11:25
[1] YouTube – Lordi – Hard Rock Hallelujah – 24.11.2009
[2] YouTube – Verka Serduchka – Dancing Lasha Tumbai (Ukraine) 2007 Eurovision Song Contest – 12.01.2012
[3] YouTube – Buranovskiye Babushki – Party For Everybody – Live – Grand Final – 2012 Eurovision Songcontest – 26.05.2012
[4] YouTube – Eurovision 2000 Germany – Stefan Raab – Wadde hadde dudde da – 27.07.2010
[5] YouTube – Love, Love, Peace, Peace – How to create the perfect Eurovision Performance | Tutorial – 14.05.2016
[6] YouTube – LOREEN – „EUPHORIA“ (Official video) – 05.07.2012
[7] YouTube – Emmelie de Forest – Only Teardrops – 24.06.2013
[8] YouTube – Alexander Rybak – Fairytale – 07.03.2012
[9] YouTube – Blanche – City Lights (Official Music Video) – Blanche
[10] YouTube – Carl Espen – Silent Storm (Norway) LIVE Eurovision Song Contest 2014 Grand Final – 10.05.2014
[11] YouTube – The Common Linnets – Calm After The Storm (The Netherlands) 2014 Eurovision Song Contest – 17.03.2014
[12] YouTube – Salvador Sobral – Amar Pelos Dois (Portugal) LIVE at the 2017 Eurovision Song Contest – 13.05.2017
[13] Blangiardo, M. & Baio, G. Evidence of bias in the Eurovision song contest: modelling the votes using Bayesian hierarchical models. Journal of Applied Statistics 41(10), 2312-2322.
[14] Smith, W.D. (2000). Range Voting.
[15] Das Erste – Die Regeln des ESC | FAQ – Stand: 30.04.18 13:37 Uhr
[16] Murdock, B.B. (1962). The serial position effect of free recall. Journal of Experimental Psychology 64(5), 482-488.
[17] ESC Insight – How Much Influence Does The Running Order Really Have? – 15.01.2013
[18] YouTube – THE MAZE • MICHAEL SCHULTE (OFFICIAL VIDEO) – 12.09.2014